zum schmökern




aus: Frisierte Gedanken

Es gab Zeiten, da mußte man die Sklaven legal kaufen.

Sesam öffne dich - ich möchte hinaus!

Die Uhr schlägt. Alle.

Vielleicht werden wir irgendwann unsere Seelen volkswirtschaftlich verwerten können.

Schade, daß man ins Paradies mit einem Leichenwagen fährt!

Das Leben nimmt dem Menschen sehr viel Zeit weg.

Geh nicht ausgetretene Pfade - Du wirst ausrutschen

Ich reiche ihnen bittere Pillen in süßem Zuckerguss. Die Pillen sind unschädlich, das Gift steckt in der Süße.

Eine Eigenschaft geistig Träger, die am meisten ins Auge fällt, ist ihre unverwüstliche Aktivität.

Die künftigen Darwins werden vielleicht eine These aufstellen, daß die hochentwickelten Wesen (zu denen sie zählen werden) von den Menschen abstammen. Das wird ein Schock sein!

Die Freiheit der Sklaven mißt man an der Länge ihrer Kette.

Der Mensch hat noch einen Vorzug gegenüber der Maschine - er ist imsatnde sich selbst zu verkaufen.

Ich hätte viele Dinge begriffen, hätte man sie mir nicht erklärt.

Traum der Sklaven: ein Markt, auf dem man sich seinen Herrn selber kaufen dürfte.

Lec, Stanislaw Jerzy (1909 - 1966)







Das Reh

Das Reh springt hoch, das Reh springt weit.
Warum auch nicht es hat ja Zeit!

Erhard, Heinz (1909 - 1979)















Man muss immer trunken sein

Man muß immer trunken sein.
Das ist alles, die einzige Lösung.
Um nicht das furchtbare Joch der Zeit zu fühlen,
das eure Schultern zerbricht und euch zur Erde beugt,
müsset ihr euch berauschen, zügellos.
Doch womit?
Mit Wein, mit Poesie, oder mit Tugend?
Womit ihr wollt,
aber berauschet euch.
Und wenn ihr einmal
auf den Stufen eines Palastes,
im grünen Grase eines Grabens,
in der traurigen Einsamkeit eures Gemaches erwachet,
der Rausch schon licht geworden oder verflogen ist,
so fraget den Wind, die Woge, den Stern, den Vogel, die Uhr,
alles, was flieht,
alles, was seufzt,
alles, was vorüberrollt, singt, spricht,
fraget sie: Welche Zeit ist es?
Und der Wind, die Woge, der Stern, der Vogel, die Uhr werden euch antworten:
Es ist Zeit, sich zu berauschen,
um nicht die gequälten Sklaven der Zeit zu sein.
Berauschet euch,
berauschet euch ohne Ende
mit Wein, mit Poesie,
oder mit Tugend,
womit ihr wollt.

Baudelaire, Charles (1821 - 1867)




Eine Frage

Da stehn die Werkmeister - Mann für Mann.
Der Direktor spricht und sieht sie an:
"Was heißt hier Gewerkschaft! Was heißt hier Beschwerden!
Es muß viel mehr gearbeitet werden!
Produktionssteigerung! Daß die Räder sich drehn!"
Eine einzige kleine Frage:
Für wen?

Ihr sagt: Die Maschinen müssen laufen.
Wer soll sich eure Waren denn kaufen?
Eure Angestellten? Denen habt ihr bis jetzt
das Gehalt, wo ihr konntet, heruntergesetzt.
Und die Waren sind im Süden und Norden
deshalb auch nicht billiger geworden.
Und immer noch sollen die Räder sich drehn ...
Für wen?
Für wen die Plakate und die Reklamen?
Für wen die Autos und Bilderrahmen?
Für wen die Krawatten? die gläsernen Schalen?
Eure Arbeiter können das nicht bezahlen.
Etwa die der andern? Für solche Fälle
habt ihr doch eure Trusts und Kartelle!
Ihr sagt: die Wirtschaft müsse bestehn.
Eine schöne Wirtschaft!
Für wen? Für wen?
Das laufende Band, das sich weiterschiebt,
liefert Waren für Kunden, die es nicht gibt.
Ihr habt durch Entlassung und Lohnabzug sacht
eure eigne Kundschaft kaputt gemacht.

Denn Deutschland besteht - Millionäre sind selten -
aus Arbeitern und aus Angestellten!
Und eure Bilanz zeigt mit einem Male
einen Salto mortale.
Während Millionen stempeln gehn.
Die wissen für wen.

Tucholsky, Kurt (1890 - 1935)




Betrauern wir diesen Mann

Betrauern wir diesen Mann
nicht weil er gestorben ist
betrauern wir diesen mann
weil er niemals wagte
glücklich zu sein

betrauern wir diesen mann
der nichts war als arbeit und pflicht
betrauern wir diesen mann
weil er immer getan hat
was man von ihm verlangte

betrauern wir diesen mann
der nie mit der faust auf den tisch schlug
betrauern wir diesen mann
weil er nie auf das urteil anderer pfiff
und einfach tat was ihm paßte

betrauern wir diesen mann
der fehlerfrei funktionierte
betrauern wir diesen mann
weil er streit und frauen vermied
und heute von allen gerühmt wird

betrauern wir diesen mann
nicht weil er gestorben ist
betrauern wird diesen mann
weil er war wie auch wir sind
betrauern wir uns

Marti, Kurt (1921-2017)




Revolte im Spiegel
Der Maske satt, in die er jeden Morgen schlüpft,
müde des Abziehbildes einer hohlen Sicherheit,
müde, den Mann zu stellen, sich ins Zeug
zu legen, sich zu setzen in die Nesselsessel,
müde sich einzuspielen, aufzuspielen,
aufzupumpen und wieder, immer wieder anzupassen,
einzupassen, korrekt, adrett, gewandt, gefaßt,
gesetzt, gewitzt, gewiegt, gewinnend,

riß er sich die Krawatte von der Brust
und schneiderte sie um zu einer Puppenschürze
für seine Tochter, zerschnitt er seinen Hut
in parallele Bänder für seinen kleinen Sohn
und ließ die Adern und die Muskeln schwellen,
bis die Manschetten platzten
und der Kragenknopf zersprang.

Sodann versetzte er seinem Spiegelbild
Kinnhaken und genau gezielte Tiefschläge
auf den Magen, in die Milz und Leber,
trat auf die Scherben, stampfte sie
zu Staub und leckte sich zufrieden
das Blut von seinen Fäusten.

Bächler, Wolfgang (1925-2007)



Darum sage ich euch: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet;
auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet.
Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?
Seht die Vögel unter dem Himmel an:
Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen;
und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.
(...)
Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung?
Schaut die Lilien auf dem Felde an, wie sie wachsen:
Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht.
Ich sage euch, daß auch Salomo in seiner ganzen Herrlichkeit nicht so gekleidet gewesen ist,
wie auch nur eine von ihnen.

Neues Testament (Matthäus, 6.25 ff)



Der geregelte Zeitgenosse

Hei, wie er die Zukunft auswendig wußte!
Er kannte die Höhe der Summe genau,
die man den Kindern und seiner Frau
nach seinem Tode auszahlen mußte.

Er war berühmt als Vater und Gatte,
der Leben und Sterben und Diebstahl und Brand
versicherungsrechtlich geregelt hatte.
Er hatte das Schicksal glatt in der Hand.

Und wenn sich die Achse der Erde verböge:
er wußte, wieviel er am 1. Mai
(vorausgesetzt, daß er am Leben sei)
in zwanzig Jahren Gehalt bezöge.

Gewohnheit umgab ihn mit hohen Mauern.
Sie rückten immer näher heran.
Und er begann, sich zu bedauern.
Nicht immer, aber dann und wann.

Da half kein gesteigertes Innenleben.
Er wußte, was sie morgen besprächen
und was sie einander zur Antwort gäben
und wann und wie sie sich unterbrächen.

Das Lieben und Atmen und Zeitunglesen,
das wurde alles zu einem Amt.
Er war doch mal ein Mensch gewesen!
Das war vorbei, und er dachte: Verdammt!

Verschiedentlich faßte er Fluchtgedanken.
(Er dachte speziell an Amerika.)
Aber aus Angst, seine Frau könnte zanken,
blieb er dann doch immer wieder da.

Kästner, Erich (1899 - 1974)



Des arbeitsamen Glaubensbekenntnis

Ich glaube an Trott, den Allmächtigen,
Schöpfer des Weckers und des Feierabends,
und an die paar Kröten,
seinen eingebrachten Lohn,
meinen Herrn,
empfangen durch den heiligen Boß,
geprägt von meinem Gehorsam,
veredelt durch viele Überstunden,
gehortet, versteckt und vergraben,
hinweggeschlossen in den Kellern,
bis zur Rente nicht mehr hervorgeholt,
aufgespart für die Pensionszeit,
wo ich herumsitzen kann,
zu richten über Arbeitsscheue und Faule.
Ich glaube dem heiligen Boß,
seiner allverzweigten Industrie,
Gemeinschaft der Kassierenden.
Ich glaube an die Vergeblichkeit meiner Arbeit,
die Aufgabe aller Forderungen
und den ewigen Gehorsam, den sie uns niemals n-
ahmen.

Sophie Warning (1957)


... Es wird ein Dekret erlassen,
daß, wer sich Schwielen an die Hände schafft,
unter Kuratel gestellt wird,

daß, wer sich krank arbeitet,
kriminalistisch strafbar ist,

daß jeder, der sich rühmt, sein Brot im Schweiße
seines Angesichts zu essen,
für verrückt und der menschlichen Gesellschaft
gefährlich erklärt wird,

und dann legen wir uns in den Schatten
und bitten Gott um

Makkaroni,
Melonen und Feigen,
um musikalische Kehlen,
klassische Leiber und eine kommode Religion.

Büchner, Georg (1813 - 1837)
aus: Leonce und Lena


Herr, ich habe die große Beschäftigung, müßig zu gehen;
ich habe eine ungemeine Fertigkeit im Nichtstun;
ich besitze eine ungeheure Ausdauer in der Faulheit.
Keine Schwiele schändet meine Hände,
der Boden hat noch keinen Tropfen von meiner Stirn getrunken,
ich bin noch Jungfrau in der Arbeit;
und wenn es mir nicht der Mühe zuviel wäre, würde ich mir die Mühe nehmen,
Ihnen diese Verdienste weitläufiger auseinanderzusetzen.

Büchner, Georg (1813 - 1837)



Ich bleib dabei:
Durch Arbeitsamkeit würde sich unser Wohlstand vermehren,
aus dem Wohlstand entstünde Reichtum,
aus dem Reichtum entstünden höhere Wünsche,
aus den Wünschen Unzufriedenheit ...
Nein, du verlockst mich nicht,
ich bleib' bei meinem stillbescheidenen tatenlosen Wirkungskreis -
ich arbeit' nix!

Nestroy, Johann (1801 - 1862)



Immer will mir nichts gelingen,
nie was schaffen tu ich gern.
Nur wem faul ist, kann nichts mehr gelingen
Müßiggang, du holder Stern.
Versager sein, sich nicht betragen,
glücklich in der Sonne dösen,
nicht mehr jammern, nicht mehr klagen,
sich von der Arbeitsfessel lösen.
Spielen, jauchzen, tollen, lachen,
ach, was könnt man alles machen ...

Felix Quadflieg (1959)


Welche Wohltat
einmal auch sagen zu dürfen:
nein er war nicht tüchtig
und wechselte oft die stelle
nein er war nicht fleißig
und arbeitete nur
sofern es nicht anders ging

sonst aber
las er lieber SPORT oder PLAYBOY
setzte sich nachmittags schon ins kino
(EDDIE CONSTANTINE war sein Liebling)
schlürfte cognac in straßencafés
meditierte die anmut der frauen
oder die tauben am turm

im frühling fuhr er
durch zart- und frechgrünes land
den sommer verlag er
gut geölt und behaglich im schwimmbad
später im herbst dann streifte er
manchen stillen waldrand entlang
ehe er für den winter
eine beschäftigung suchte
und eine freundin
weil er die festferientage
nicht allein zu verbringen liebte

welche wohltat
in einer welt
die vor tüchtigkeiten
aus den fugen gerät;
ein mann der sich gute tage
zu machen wußte
ehe nach einigen bösen
jetzt
der letzte tag für ihn kam

Marti, Kurt (1921-2017)



Arbeit tut not - !
Es raucht der Schlot. Sirene gellt.
Arbeit tobt durch die deutsche Welt:
Noch mehr Tender - !

Graumorgens taumelt, lungenkrank,
der Mann aus seinem Menschenschrank.
Die Pfeife hetzt zum Eingangstor,
Kontrolluhr, Wächter und Hund davor ...
Noch mehr Tender! Noch mehr Automobile!

Der Stumpfsinn treibt die Transmission.
Wir haben auch einen Leitspruch schon:
Arbeit tut not!
Die Fräser surren,
Hämmer hämmern, die Sägen schnurren ...
Noch mehr Tender! Noch mehr Automobile!
Noch mehr Zangen! Noch mehr Spatenstiele!

Grau stickt Büroluft alle Lungen.
Hier hockt die Jugend; hier sitzen die Jungen.
Rabatte gellen durchs Telefon -
es klappert Underwood und Cohn:
Noch mehr Tender! Noch mehr Automobile!
Noch mehr Zangen! Noch mehr Spatenstiele!
Noch mehr Aktien! Noch mehr Industrie!
Und alles made in Germany!

Waren! An Waren profitieren!
Waren sinnlos produzieren!
Will einer sie haben? Kann einer kaufen?
Unser Land soll in Waren versaufen!
Klopfen, hämmern, schneiden, weben -
eine Kleinigkeit fehlt: das Leben.
Kleben, kochen, färben und braten -
Kinder, macht Kinder! der Staat braucht Soldaten!

Sind die Gräben einst voll, sinds die Gräber auch -
das ist des Landes so der Brauch.

Produziert Kinder! Unentwegt!
Sie werden euch später in Kalk gelegt.
Das ist Wirtschaftspolitik.
Und es bläst die Militärmusik:
Noch mehr Granaten! Noch mehr Automobile!
Noch mehr Kinder! Noch mehr Spatenstiele!
Noch mehr Bleche! Noch mehr Krane!
Noch mehr Werften! Noch mehr Vulkane!
In die Welt gepreßt bis zum Börsensieg -
Und wenn sie nicht wollen, macht Deutschland Krieg!

Wer wird uns den rasenden Kaufmann bezwingen -?
Arbeit tut not:
Die Masse wirds bringen.

Tucholsky, Kurt (1890 - 1935)



Wer aber recht bequem ist und faul,
flög dem eine gebratne Taube ins Maul,
er würde höchlich sichs verbitten,
wär sie nicht auch geschickt zerschnitten.

Goethe, Johann Wolfgang von (1749 - 1832)



Die Nähe

Die Nähe ging verträumt umher ...
Sie kam nie zu den Dingen selber.
Ihr Antlitz wurde gelb und gelber,
und ihren Leib ergriff die Zehr.

Doch eines Nachts, derweil sie schlief,
da trat wer an ihr Bette hin
und sprach: "Steh auf, mein Kind, ich bin
der kategorische Komparativ!

Ich werde dich zum Näher steigern,
ja, wenn du willst, zur Näherin!" -
Die Nähe, ohne sich zu weigern,
sie nahm auch dies als Schicksal hin.

Als Näherin jedoch vergaß
sie leider völlig, was sie wollte,
und nähte Putz und hieß Frau Nolte
und hielt all Obiges für Spaß.

Morgenstern, Christian (1871 - 1914)



Il dolce far niente

Werner Finck hätte gerne in Verlagsprogrammen einen Ratgeber mit dem folgenden Titel gesehen:
"Nichtstun leicht gemacht. - Faulenzen - aber mit Verstand."

Folgendes wäre u.a. darin zu lesen:
"Es ist sich wohl niemand ganz klar darüber, wie schwer gerade das Nichtstun ist.
Far niente ohne zu klagen! Das will gelernt sein.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Faulenzen ist eine Begabung.
Dem Neurastheniker gelingt es einfach nicht, und das legt sich auch nicht; selbst wenn er einmal liegen sollte, läßt es ihm keine Ruhe, und er schnellt wieder in die Höhe: Ein Gedanke scheucht ihn auf. Er hat etwas vergessen, was er noch vor seiner Abreise hätte tun sollen. Das tut ihm nun leid: Leidtun ist auch eine Tätigkeit!
Nichts ist dem süßen Nichtstun abträglicher, als wacher Geist. Der geborene Faulenzer macht sich keine Gedanken. Wenn ihm welche kommen, findet er sich mit ihnen ab. Aber daß er sich welche machen sollte - welch ein Gedanke!
Wer sich erholen will, muß hemmungslos werden. Er muß alles entspannen, worauf er gespannt ist: wie die Beziehungen nachbarlicher Völker zueinander sich gestalten werden, wer den Sieg davon- und wer die Kriegskosten tragen wird - es muß ihm gleichgültig werden.
Hingegen der gelernte Faulenzer tut sich viel schwerer, wie man im Bayerischen sagt.
Schon das späte Aufstehen macht ihm Schwierigkeiten - im Gegensatz zum geborenen, der ja aus Gewohnheit liegen bleibt. Jedem anderen lärmt allmorgendlich der Wecker im Blut. Der Tick des Alltags.
Außerordentlich dilettantisch im Sinne korrekten Faulenzens ist es auch, das Frühstück in aufrechter Haltung zu genießen. Mit Haut und Haaren will es eingenommen sein, niemals aber mit Schlips und Kragen.
Für den weiteren Verlauf des Tages ist es wichtig, daß er absolut im Sande verläuft, gleichviel ob im See-, märkischen oder symbolischen Sande.
Den perfekten Faulenzer zeichnet die absolute Gleichgültigkeit aus. Es muß ihm völlig gleichgültig sein, ob das Geld, womit er morgen seine Pension begleichen will, ein-, oder ob das, was der Portier von vorneherein angenommen hatte, zutrifft.
Von Kurdirektionen und Fremdenverkehrsvorständen aufgestellte Programme muß er verachten lernen. Sie gelten für Leute, die an solchen Erholungsgerüsten ihre Ferien abturnen wollen.
Der richtige Faulenzer bewegt sich im Nichts und ist durch nichts zu bewegen."

Finck, Werner (1902 - 1978)



Fauler Zauber

Frühmorgens in der Wanne geht es los.
Man sitzt und wünscht sich, nie mehr aufzustehn,
und ist zu faul, die Hähne zuzudrehn.
Man müßte baden, doch man plätschert bloß.
Das Wasser steigt. Man starrt auf seine Zehen,
als wären es platonische Ideen.
Da irrt man sich. Sie sind nur etwas groß.

Man lächelt so, als röche man an Rosen,
und ist verwundert, daß man lächeln kann.
Denn man ist faul. Doch lächeln greift nicht an.
Ach, der Verstand ist noch in Unterhosen!
Die Energie, der Kopf, der ganze Mann -
Sie sind verreist, und keiner weiß, bis wann.
Man sitzt und zählt sich zu den Arbeitslosen.

Man liegt und schläft, auch wenn man ißt und geht.
Man trollt durch Straßen, summt ein dummes Zeilchen
und schäkert in den Gärten mit den Veilchen.
Fast wie ein Luftballon wird man verweht.
Man zupft den Brief von Fee in tausend Teilchen.
Und wirft ihn weg. Und wartet dann ein Weilchen,
ob wenigstens der Wind den Brief versteht.

So faul ist man! Und hat so viel zu tun.
Und Uhren ticken rings in allen Taschen.
Und Zeit entflieht und will, man soll sie haschen,
und rennt sich fast die Sohle von den Schuhn.
Man ist zu faul, die Seele reinzuwaschen.
Man wird die Stunden wie Bonbons vernaschen
und schleicht nach Hause, um sich auszuruhn.
Faulheit strengt an, als stemmte man Gewichte.
Man ist allein, und das ist kein Verkehr.
Und Steine klopfen ist nicht halb so schwer.
Man steht herum und steht dem Glück im Lichte.
Und daß man lächelt, spürt man gar nicht mehr.
Vom Nichtstun wird nicht nur der Beutel leer.
Das ist das Traurigste an der Geschichte.

Anmerkung: Es gibt zwei Sorten Männer:
Solche, die sich rasieren lassen,
und solche, die sich lieber selber rasieren.

Kästner, Erich (1899 - 1974)



Frieden durch Faulheit

Der Zweck des Arbeitens ist, daß die Arbeit gemacht wird. Erst hat man Arbeit, dann arbeitet man, dann ist die Arbeit getan. Zwar kommt immer wieder Arbeit nach, weil Brot aufgegessen wurde, ein Auto verrostet oder ein Knopf abgerissen ist. Das Leben will erhalten sein, und die Zeit zerstört die Dinge, wie es das Entropiegesetz befiehlt.

Doch war die bisherige Geschichte der Arbeit - außer dem Bemühen, das Leben zu erhalten - auch ein Kampf um die Erleichterung des Arbeitens. Dieser Kampf ist bei uns gewonnen worden. Eiserne Sklaven verrichten die Knochenarbeit, Sklaven aus Silizium die formalisierbare Denkarbeit. Arbeit für Menschen wird knapp. Eine ungeheure Wende, eine wahrhafte Revolution liegt hinter uns. Biblisch gesprochen, haben wir uns vom Arbeitsfluch, der seit der Vertreibung aus dem Paradies auf uns Menschen lastete, freigeschafft - nicht wir allein, sondern ungezählte Generationen vor uns haben daran mitgewirkt.
Die Früchte getaner Arbeit fallen uns jetzt überreich in den Schoß. Die Pforten des Paradieses öffnen sich wieder. Aber wenn wir hineinblicken, schaudert es uns. Da drinnen hockt ein Gespenst, es heißt Arbeitslosigkeit.

Schütze, Christian (1927)



Fürwahr es ist nicht klar,
ob ich schonmal gewesen war.
Sag nicht, daß ich spinn,
wenn ich glaube, daß ich bin.
Was wird meine Zukunft sein?
Fegefeuer, Höllenpein?
Oder Lobpreis für den Himmelherrn?
Ach Gott, das hätte ich nicht gern.
Immer singen, preisen, loben
dann zieh ich dem Sein dort oben
vor, meine zweifelhafte Existenz
(und mach mir hier nen lauen Lenz!).

Die paar Jährchen, die uns hier gewährt auf Erden,
die um Himmels willen werden
wir uns doch sicher nicht verleiden.
Nein, und deshalb meiden
wir von Stund an jede Pflicht.
Denn es ist ganz sicher nicht
förderlich fürs Leben schuften.
Müssen Blumen, um zu duften,
zur Arbeit gehn und tun,
anstatt zu liegen und zu ruhn?
Nein, die Weile die wir hier verbringen
füllen wir aus mit Tanz und Singen.
Darum reih sich jede ein
der Arbeit ist nur Müh und Pein.
Wir wollen nicht mehr sinnvoll sein!

Felix Quadflieg (1959)


"Gesundheit!"

Infiziert mit Wohlstandsviren
Angesteckt mit Anpassungsbazillen
Verseucht mit Bürokratiekeimen
Eingenebelt mit Fremdbestimmtheitsbakterien
Leidend am Entsorgungssyndrom
Kontaminiert mit Wohlerzogenheitsfallout
Dessen Halbwertzeit Jahrmillionen beträgt
So leben die Menschen in guter Gesellschaft
Nur wenige haben ein starkes Immunsystem

die sind abgehärtet

Sophie Warning (1957)


Homo ludens
Der homo faber, homo prudens,
Gilt mehr uns als der homo ludens,
Der scheinbar unnütz faule Bruder. -
Gar, wenn er noch ein armes Luder.
Und doch ist der, oh Mensch, erkenn's!,
Der wahre homo sapiens,
Der, bis zum letzten Tag ein Kind,
Des Lebens ernstes Spiel gewinnt.

Roth, Eugen (1895 - 1976)



Im Sommer

Im Schweiße unsres Angesichts
Solln unser Brot wir essen?
Im Schweiße ißt man lieber nichts,
Nach weiser Ärzte Ermessen.
Der Hundsstern winkt: woran gebrichts?
Was will sein feurig Winken?
Im Schweiße unsres Angesichts
Solln unsren Wein wir trinken!

Nietzsche, Friedrich (1844 - 1900)



Jede Verschiebung der gewohnten Stunden bringt dem Geist stets eine kalte Neuheit, ein leicht unbehagliches Vergnügen. Wer daran gewöhnt ist, sein Büro um sechs zu verlassen und zufällig um fünf gehen kann, erlebt selbstverständlich einen geistigen Feiertag und etwas, was wie ein Schmerz zieht, nämlich nicht zu wissen, was er mit sich anstellen soll.
Gestern ging ich um vier aus dem Büro fort, weil ich an entlegenem Orte etwas zu erledigen hatte, und um fünf hatte ich meinen entlegenen Auftrag ausgeführt. Zu dieser Stunde pflege ich mich nicht auf der Straße aufzuhalten, und deshalb befand ich mich in einer anderen Stadt. Das langsame Licht auf den bekannten Häuserfassaden schimmerte unerquicklich sanft, und die Passanten von eh und je gingen an mir in der fremd gewordenen Stadt vorüber, Matrosen, die gestern Abend von ihrem Geschwader an Land gegangen waren.
Das Büro mußte um diese Zeit noch geöffnet sein. Ich kehrte dorthin zurück, zum begreiflichen Staunen der Kollegen, von denen ich mich schon verabschiedet hatte. Wie, noch einmal zurück? Jawohl, zurück. Dort war ich frei zu fühlen, allein unter denen, die mich begleiteten, ohne daß sie geistig für mich vorhanden gewesen wären ... Es war in gewisser Weise mein Heim, das heißt der Ort, an welchem man nicht fühlt.

Pessoa, Fernando (1888 - 1935)



menschenfleiß

ein faulsein
ist nicht lesen kein buch
ist nicht lesen keine zeitung
ist überhaupt nicht kein lesen

ein faulsein
ist nicht lernen kein lesen und schreiben
ist nicht lernen kein rechnen
ist überhaupt nicht kein lernen

ein faulsein
ist nicht rühren keinen finger
ist nicht tun keinen handgriff
ist überhaupt nicht kein arbeiten

ein faulsein
solang mund geht auf und zu
solang luft geht aus und ein
ist überhaupt nicht.

jandl, ernst (1925 - 2000)



Muße und Müßiggang

Es ist eine indianerhafte, dem Indianer-Blute eigentümliche Wildheit in der Art, wie die Amerikaner nach Gold trachten: und ihre atemlose Hast der Arbeit - das eigentliche Laster der neuen Welt - beginnt bereits durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen und eine ganz wunderliche Geistlosigkeit darüber zu breiten. Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag ißt, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, - man lebt wie einer, der fortwährend "etwas versäumen" könnte. "Lieber irgendetwas tun als nichts" - auch dieser Grundsatz ist eine Schnur, um aller Bildung und allem höheren Geschmack den Garaus zu machen. Denn das Leben auf der Jagd nach Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben, im beständigen Sich-Verstellen oder Überlisten oder Zuvorkommen: die eigentliche Tugend ist jetzt, etwas in weniger Zeit zu tun als ein anderer.
Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hang zur Freude nennt sich bereits "Bedürfnis der Erholung" und fängt an, sich vor sich selbst zu schämen. "Man ist es seiner Gesundheit schuldig" - so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt wird. Nun! Ehedem war es umgekehrt: die Arbeit hatte das schlechte Gewissen auf sich. Ein Mensch von guter Abkunft verbarg seine Arbeit, wenn die Not ihn zum Arbeiten zwang. Der Sklave arbeitete unter dem Druck des Gefühls , daß er etwas Verächtliches tue - das "Tun" selber war etwas Verächtliches.

Nietzsche, Friedrich (1844 - 1900)



Pan und seine Taten

Pan lebte in Arkadien, bewachte dort die Herden und Bienenstöcke, nahm an den Lustbarkeiten der Bergnymphen teil und half den Jägern, ihre Beute zu finden. Im großen und ganzen war er gutmütig und faul und liebte nichts mehr, als seinen Nachmittagsschlaf. Störte man ihn dabei, so rächte er sich durch einen lauten Schrei, der den Stören-frieden die Haare zu Berge stehen ließ.

Ranke-Graves, Robert (1895 - 1985)



Vergiß Dich

Zupf dir ein Wölkchen aus dem Wolkenweiß,
das durch den sonnigen Himmel schreitet.
Und schmücke den Hut, der dich begleitet,
mit einem grünen Reis.

Verstecke dich faul in der Fülle der Gräser.
Weil's wohltut, weil's frommt.
Und bist du ein Mundharmonikabläser
und hast eine bei dir, dann spiel was dir kommt.

Und laß deine Melodie lenken
von dem freigegebenen Wolkengezupf.
Vergiß dich. Es soll dein Denken
nicht weiter reichen, als ein Grashüpferhupf.

Ringelnatz, Joachim (1883 - 1934)



Zu Tun! Zu Tun!

Heute lese ich da in der Zeitung:
In Los Angeles gibts einen Schnapsverein,
und man befürchtet seine Verbreitung
in dem übrigen Land - dabei fällt mir ein:
Ich sollte mal wieder an Edith schreiben
(in Kalifornien) - seit Januar
liegt der Brief da, und ich laß es bleiben
und verschieb es nun schon ein halbes Jahr.
Das ist nicht richtig. Es nimmt mir die Ruh.
Aber ... ich komme nicht dazu.

Der Arzt sagt, ich soll mir Bewegung machen.
Da gibt es so eine Art Schule für Sport ...
Auf dem Boden liegen noch alte Sachen,
die sollten doch längst für die Armen fort!
Bin ich an Vaterns Grab gewesen?
Ich nehm es mir vor - und dabei wirds nie.
Das Gelbbuch wollte ich immer mal lesen,
das und Simmels Soziologie.
Wie oft wollt ich schon nach Friedrichsruh!
Aber ... ich komme nicht dazu.

Einstmals, wenn die Posaunen schallen,
steigt auf der Berliner aus seinem Grab.

Und er steht in der ersten Reihe vor allen -
("Weil ich doch meine Beziehungen hab!")
Gott, der Herr, mild und voll Frieden,
der über allen Gewässern schwebt,
spricht: "Berliner! Was tatst du hienieden?
Menschenskind! Wie hast du gelebt -?"

Und der Berliner sagt darauf verschwommen:
"Ich ... ich bin leider nicht dazu gekommen."

Tucholsky, Kurt (1890 - 1935)



Abkassieres Glaubensbekenntnis

Ich glaube an Trott, den Allmächtigen,
Schöpfer der Werktätigen und Fließbänder,
und an das Große Geld,
seinen innewohnenden Lohn,
meinen Herrn,
empfangen durch der Werktätigen Fleiß,
geboren von der unschlagbaren Gier,
geprägt von der Landeszentralbank,
gehortet, versteckt und vergraben,
hinweggeschlossen in Schweizer Kellern,
am Ultimo teilweise hervorgeholt in kleinen Münzen,
widerwillig abgegeben an die Werktätigen,
die sitzen zuviel herum
zu rechten mit dem Allmächtigen Trott,
der kommen wird,
zu richten die Lebenden zu Toten.
Ich glaube an die freie Marktwirtschaft,
an ihre Schar von nützlichen Idioten,
Gemeinschaft der Leidenden.
Ich glaube an die Vergeblichkeit der Lohnforderungen,
die Vermehrung meiner Güter und den ewigen Verdienst,
der denen gebührt, die ihn sich n-
ahmen.

Sophie Warning (1957)


Als Tellerwäscher im Grand Hotel

... Der verrückteste Typ, den ich je in dem Hotel zu Gesicht bekam, war ein sogenannter "extra". Für fünfundzwanzig Francs war er für den Magyaren angeheuert worden, der krank war. Er war ein Serbe, ein zu Übergewicht neigendes, pfiffiges Kerlchen von etwa fünfund-zwanzig Jahren, der sechs Sprachen, darunter Englisch, beherrschte. Er schien alles vom Hotelgewerbe zu wissen, und bis zum Mittag schuftete er wie ein Sklave. Dann, kaum hatte es zwölf geschlagen, fing er an zu schmollen, drückte sich vor der Arbeit, klaute Wein und setzte alledem noch damit die Krone auf, daß er vor aller Augen mit einer Pfeife im Mund tatenlos herumlungerte. Natürlich war das Rauchen bei hoher Strafe verboten. Der Geschäftsführer bekam Wind davon und kam herunter, um sich mit dem Serben zu unterhalten. Er schäumte vor Wut. "Was zum Teufel, erlaubst du dir, hier einfach zu rauchen?" brüllte er. "Was, zum Teufel, erlauben Sie sich mit diesem frechen Ton?" antwortete der Serbe seelenruhig.
Ich kann nicht erklären, was diese Bemerkung an "Gottes"-Lästerung bedeutete. Wenn ein plongeur so mit dem Chefkoch gesprochen hätte, hätte der ihm eine Kasserolle mit heißer Suppe ins Gesicht geschleudert. Der Chef sagte wie aus der Pistole geschossen: "Du bist entlassen!" und um zwei Uhr wurden dem Serben seine fünfundzwanzig Francs ausgezahlt und er war vorschriftsmäßig gefeuert. Bevor er ging, fragte Boris ihn auf russisch, was das alles zu bedeuten gehabt hätte. Er sagte, der Serbe hätte geantwortet: "Schau her, mon vieux, sie müssen mir den Lohn für den ganzen Tag geben, wenn ich bis mittags arbeite, oder?! So lautet das Gesetz. Und es wäre doch schon blöd, wenn ich länger arbeiten würde als ich müßte, um meinen Tageslohn zu kriegen. Ich geh in ein Hotel, und bis Mittag arbeite ich hart. Und dann, Gongschlag zwölf, fang ich so ein Mordstheater an, daß ihnen gar nichts übrig bleibt, als mich zu feuern. Clever, was? Normalerweise bin ich um halb eins draußen, heute ist es zwei Uhr geworden; aber ich werd's verschmerzen, ich hab vier Stunden Arbeit eingespart. Das einzige Problem daran ist, daß man´s in ein und demselben Hotel nicht zweimal so machen kann."
Es stellte sich heraus, daß er dieses Spiel schon in der Hälfte aller
Pariser Hotels und Restaurants gespielt hatte, ein Spiel, das möglicherweise im Sommer recht leicht zu spielen ist, obwohl die Hotels versuchen, sich dagegen zu schützen, soweit sie das mit Hilfe einer schwarzen Liste zu tun vermögen ...

Orwell, George (1903 - 1950)
Ausschnitt aus den Meistererzählungen


Wenn die Arbeiterklasse (...) sich in ihrer furchtbaren Kraft erheben wird, ... nicht um das Recht auf Arbeit zu proklamieren, das nur das Recht auf Elend ist, sondern um ein ehernes Gesetz zu schmieden, das jedermann verbietet, mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten, so wird die alte Erde, zitternd vor Wonne, in ihrem Innern eine neue Welt sich regen fühlen.

Lafargue, Paul (1842 - 1911)



Trauerarbeit

Der Schuhmacher Häfliger, bei dem ich als Kind oft saß, hat nicht gearbeitet. Er hat Schuhe gemacht und Schuhe gesohlt. Ich habe ihn nie anderswo gesehen als in seiner Werkstatt, da gehörte er hin, da schien er zu wohnen. Er machte mir nie den Eindruck, daß er vom Schuheflicken lebt, viel eher lebte er schuheflickend. Ich hielt ihn - sicher zu Unrecht - für einen sehr reichen Mann. Er besaß zum Beispiel etwas, das ich nur aus dem Märchen kannte, nämlich Pech. Dieses Pech hatte in "Frau Holle" zwar eine negative Funktion - aber immerhin, Pech war aus dem Märchen und also teuer.
Auch aus einem anderen Grunde hielt ich den Schuhmacher Häfliger für einen reichen Mann: er ging nicht arbeiten wie mein Vater, sondern blieb zu Hause. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er je mal zu seiner Frau gesagt hat: "Ich gehe arbeiten", sondern er wird gesagt haben: "Ich geh in die Werkstatt". Er arbeitete nicht als Schuhmacher, sondern er war ein Schuhmacher. Mein Vater aber arbeitete. Er war für mich kein Maler, sondern einer, der als Maler arbeitete. Er sagte nie: "Ich gehe malen" oder "Ich gehe Eisenbahnwagen anstreichen." Mein Vater machte seine Arbeit fürs Geld.
Ich bewunderte den Schuhmacher Häfliger dafür, daß er nicht arbeitete - so wenig arbeitete, wie die Bauern arbeiten gehen. Ein Bauer sagt: "Ich gehe in den Stall, ich gehe aufs Feld, ich gehe melken, ich gehe pflügen." Nicht, daß der Bauer etwa hartes Arbeiten nicht kennen würde - aber er nennt sein Tun nicht Arbeit. (Ganz nebenbei: ich gehöre auch zu den Privilegierten, die ihr Tun nicht als Arbeit bezeichnen. Ich arbeite nicht an meiner Maschine - einer Schreibmaschine - sondern ich schreibe.)
Im Herkunftswörterbuch lese ich nach, woher das Wort "Arbeit" kommt. Früher hatte es die Bedeutung von "verwaist sein, ein zu schwerer körperlicher Arbeit verdingtes Kind sein"; erst Luther soll dem Wort seine heutige Bedeutung gegeben haben. Erst bei ihm bekam die Arbeit, das Wort "Arbeit" einen sittlichen Wert.
Warum wohl sprach mein Vater von arbeiten? Warum sprachen der Schuhmacher und der Bauer nicht davon? Wohl deshalb, weil der Bauer sein Tun nicht als entfremdet empfand. Arbeit ist ein Wort, das wir dann brauchen, wenn Leben und Erwerb, wenn Sein und Tun
nicht mehr zusammenfallen, wenn man sich - was als selbstverständ-lich gilt - mit dem Erwerb ein anderes Leben kaufen will als jenes, in dem man arbeitend lebt.
Ich weiß, daß ich gerade heute davon nicht schreiben sollte. Ich weiß, daß heute viele Leute Arbeit suchen, daß viele sich fürchten, ihre Arbeit zu verlieren. Ich weiß, daß viele Arbeit brauchen und auf Arbeit, eben auch auf entfremdete Industriearbeit angewiesen sind. Ich weiß, daß jene Welt nicht mehr herzustellen ist, in der keiner sein Tun als Arbeit bezeichnen würde. Und im übrigen wäre es sehr fraglich jene arme und dunkle Zeit wiederherstellen zu wollen. Aber wenn man junge Leute nach ihren Berufswünschen fragt, dann fällt schon auf, daß es eine Sehnsucht nach sogenannten freien Berufen gibt: Grafiker, Maler, Goldschmied, Musiker, Schauspieler, Sozialarbeiter usw. Die meisten werden ihre Wünsche begraben und etwas werden müssen, um für Arbeit Geld zu bekommen.
Nun, nicht das ganze Leben ist Arbeit. Der Vater, der von der Arbeit nach Hause kommt und der ein leidenschaftlicher Flugmodellbauer ist, wird nach dem Nachtessen nicht sagen: "Ich gehe noch arbeiten", sondern er wird sagen: "Ich gehe noch ein bißchen in den Keller." Er wird auch nicht von Arbeit sprechen, wenn er mit den Kindern spielt, wenn er mit ihnen Hausaufgaben macht oder wenn er sie - was immer das auch heißt - erzieht.
In letzter Zeit aber ist ein Wort in Mode gekommen, das mich entsetzt: "Trauerarbeit". Ich höre das Wort in Radiointerviews mit Leuten, die Schweres hinter sich haben. Ich höre das Wort von der Frau, die von ihrem Mann verlassen wurde. Plötzlich muß Trauerarbeit geleistet werden, und weil das eben eine richtige Arbeit ist, muß sie auch gelernt, muß der "Trauerarbeitsvorbereitungskurs" besucht werden, und wer das Trauerarbeiten nicht lernt, der ist so verloren, wie jener, der das Arbeiten nicht gelernt hat.
Mir scheint, das Wort ist von Psychologen recht unüberlegt in die Welt gesetzt worden. Denn Arbeit hat trotz der Bemühungen Martin Luthers den Ruch von Entfremdung behalten: Arbeit ist etwas, das außerhalb von mir ist. Trauer aber ist in mir. Ich weiß, daß ich mit meiner Trauer bewußt umgehen muß, um sie zu überwinden. Ich weiß, daß ich etwas dafür zu leisten habe - aber ich weigere mich, den Umgang mit meiner Trauer in das allgemeine Leistungsdenken einzufügen. Ich weigere mich, meine Traurigkeit professionell zu behandeln. Ich beharre darauf, mit meinen Gefühlen dilettantisch umgehen zu dürfen.

Bichsel, Peter (1935)



aus: Handbuch des Schwindels

Arbeitslosigkeit, fallender Umsatz auf dem Arbeitermarkt. Mangel an Sklaventätigkeitsgelegenheit, lustloser Sklavenhandelsgeschäftsgang, stockender Übermenschenschacher mit Untermenschen. A. entsteht immer, wenn der Staat mehr Arbeitssklaven gemacht hat, als er beschäftigen kann. Kein Staat bleibt vor dieser seiner Gewaltentlar-vung bewahrt. Denn der feiernde Arbeitssklave ist der nachdenkende Untermensch. Freilich denkt er falsch nach und sinnt nur deshalb auf den Untergang seiner Peiniger, der Staatsmänner, um sich selbst an ihre Stelle zu setzen. Das weiß der Staat ganz genau und nur darum zahlt er Arbeitslosenunterstützung, wodurch er den beschäftigungs-losen Arbeitssklaven zum beschäftigungslosen Staatssklaven macht, ihm aber doch nicht die Zeit zum Nachdenken sperrt. Und so birgt das Anwachsen der Arbeitslosenzahl stets die Erhöhung der Kriegsgefahr in sich. Denn die staatliche Massenmörderei bedeutet für alle Sklaven, auch für die Staats- und Mordsklaven erhöhte Löhne und sperrt ihnen die Zeit zum Nachdenken. Der Untergang der Staaten ist das Ende der Sklaverei, jedes Arbeitsmarktes und jeder Arbeitslosigkeit. Denn weil der freie Mensch durchschnittlich dreimal soviel schafft wie der Sklave, ist die freie Menschheit der Beginn des Überflusses, der ewigen Lebenslust und das Ende aller Not.

Seeliger, Ewald Gerhard, H. (1877 - 1959)



Authentisch

Das war in Neapel.
Es ist schon einige Jahre her.
Aber ich werde dies Erlebnis nie vergessen.
Denn es gab meinem ganzen damaligen Arbeitsauftrieb eine andere Richtung.
Vor dem Bahnhof "lungerte" ein Facchino, ein Gepäckträger.
Ich fragte ihn, ob er meinen Koffer in das etwa hundert Meter entfernte Hotel tragen wolle.
Er lupfte den etwas schweren Koffer, sah mich aus seinen tiefdunklen Augen schmerzlich an und sagte: "Ia mangiato oggi" (ich habe heute schon gegessen).

Althaus, Peter Paul (1892 - 1965)



Balance

Arbeit ist das, was ich am wenigsten liebe.
Und dennoch arbeite ich nicht schlecht.
So von Widersprüchen ist alles durchzogen.
Würde mein Leben geradegebogen,
Ich glaube, daß kaum etwas bliebe,
Was eindeutig wäre und lotgerecht.

Ich bin nicht anders, als all die meisten.
Die Unschuld verlor ich im Paradies.
Ich unterliege den Lebenszwängen,
Die mich wie alle alltäglich bedrängen:
Ich will essen und muß dafür gegenleisten
Im Schweiße - wie es Gottvater verhieß.

Ich bin aber damit nicht einverstanden,
Daß es schwer sein soll. Ich will es leicht.
Darum übe ich mich, die Schwerkraft zu zwingen,
Übers Seil zu laufen und dabei zu singen,
Um endlich auf einer Wolke zu landen.
Bisher hab ich kaum die Balance erreicht.

Strittmatter, Eva (1930-2011)



Bleib erschütterbar und widesteh

Also heut: zum Ersten, Zweiten, Letzten:
Allen Durchgedrehten, Umgehetzten,
was ich, kaum erhoben, wanken seh,
gestern an- und morgen abgeschaltet:
Eh dein Kopf zum Totenkopf erkaltet:
Bleib erschütterbar - doch widersteh.

Die uns Erde, Wasser, Luft versauen
(Fortschritt marsch! Mit Gas und Gottvertrauen)
Ehe sie dich einvernehmen, eh
Du im Strudel bist und schon im Solde, wartend, daß die Kotze sich vergolde:
Bleib erschütterbar - und widersteh.

Schön, wie sich die Sterblichen berühren -
Knüppel zielen schon auf Herz und Nieren,
daß der Liebe gleich der Mut vergeh...
Wer geduckt steht, will auch andre biegen
(Sorgen brauchst du dir nicht selber zuzufügen;
alles was gefürchtet wird, wird wahr - )
Bleib erschütterbar
Bleib erschütterbar - und widersteh

Widersteht! Im Siegen Ungeübte;
Zwischen Scylla hier und dort Charybde
Schwankt der Wechselkurs der Odyssee...

Rühmkorf, Peter (1929-2008)



Das Faultier oder die Geschichte zur hakenförmigen Kralle
"Seit Jahren hängst du faul im Baume"!
trompetete der Elefant.
Das Faultier reckte sich die Arme
und sprach, vom Ast herabgewandt:
"Ein Elefant mag Bäume schleppen
und noch dazu des Körpers Last.
Ich dien mir selbst als Hängematte,
die Arbeit tut für mich der Ast."

"Wer sich so hängen läßt wird fallen.
Ich warn Dich!" meckerte die Gams.
Das Faultier wiegte sich am Zweige
Und gähnte von der Höh des Stamms:
"Ihr Gemsen müßt gut balancieren,
daß euch beim Sprung das Bein nicht bricht,
ich schwing im Hängen stets von selber
zurück ins sichre Gleichgewicht."

"Du wirst verhungern!" grunzt´ der Eber,
"wenn du nichts tust mein fauler Freund!"
Das Faultier kaute ruhig zu Ende,
spie einen Stengel aus und meint´:
Warum soll ich nach Trüffeln graben
Im Erdreich wie das Warzenschwein?
Die Früchte schwellen an den Zweigen
und fallen mir zum Mund herein!"

"Du Faulpelz" Scholl es gell von oben,
der Adler kreiste überm Baum.
Das Faultier folgte mit den Augen
und regt die Lippen halb im Traum:
"Ihr Adler schraubt euch in den Himmel,
hinabzustoßen eure Krall´.
Ich häng am Aste, aufzuschauen
Und mir gehört das ganze All."

Winter, Georg (1941)



Der Revoluzzer

War einmal ein Revoluzzer,
im Zivilstand Lampenputzer;
ging im Revoluzzerschritt
mit den Revoluzzern mit.

Und er schrie: "Ich revolüzze!"
Und die Revoluzzermütze
schob er auf das linke Ohr
kam sich höchst gefährlich vor.

Doch die Revoluzzer schritten
mitten in der Straßen Mitten,
wo er sonsten unverdrutzt
alle Gaslaternen putzt.

Sie vom Boden zu entfernen,
rupfte man die Gaslaternen
aus dem Straßenpflaster aus,
zwecks des Barrikadenbaus.

Aber unser Revoluzzer
schrie: "Ich bin der Lampenputzer
dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!

Wenn wir ihn´ das Licht ausdrehen
kann kein Bürger nichts mehr sehen.
Laßt die Lampen stehn, ich bitt!
Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!"

Doch die Revoluzzer lachten,
und die Gaslaternen krachten,
und der Lampenputzer schlich
fort und weinte bitterlich.


Dann ist er zuhaus geblieben
und hat dort ein Buch geschrieben:
nämlich, wie man revoluzzt
und dabei doch Lampen putzt.

Mühsam, Erich (1878 - 1934)



Die Mühle
(für Gussy Holl)

Zum erhabenen Brahma
betet jeder Lama
weit in Tibet ein Gebet.
Sitzt da im Gestühle
und dreht an einer Mühle,
die zum Beten vor ihm steht.
Uralt Wort vom Priestertum:
"Om - mani - padme - hum!"

Hier bei uns zu Lande
am unsichtbaren Bande
jeder solche Mühle schleppt.
Mancher will nur beten
zu den Papiermoneten,
bis ihn die Devise neppt.
Stets zählt er sein Eigentum ...
Om - mani - padme - hum!

Mancher sieht nur Weiber
Brüste nur und Leiber -
keine, keine läßt ihn still.
Taumelt durch die Nächte,
daß er die Frauen schwächte,
weil die Mühle es so will.
Der kennt nur ein Heiligtum ...
Om - mani - padme - hum -

Mancher stelzt wie'n Gockel
und klemmt sich das Monokel
ein - und betet nur zum Heer.
Will den Kerls was pfeifen
und seine Deutschen schleifen

und wünscht sich einen Weltkrieg her.
"Nieder mit dem Judentum!
Om - mani - padme - hum!"

Also drehn verdrossen
alle Zeitgenossen
immer ihre Mühlen rum.
Jeder hat die seine,
und jeder dreht nur eine
Walze lebenslänglich um.
Was sind Schönheit, Geld und Ruhm -?
Om - mani - padme - hum.

Tucholsky, Kurt (1890 - 1935)



Die verlorene Zeit

Vor dem Tor zur Fabrik
hält der Arbeiter plötzlich an
das schöne Wetter hat ihn am Rock gezupft
und als er sich umwendet
und die Sonne betrachtet
die rot leuchtet und blendet
lächelnd im bleigrauen Himmel
zwinkert er ihr vertraulich zu
sag Kamerad Sonne
meinst nicht auch du
man sollte sich verdammt bedenken
einen solchen Tag
dem Chef zu schenken?

Prévert, Jacques (1900 - 1977)


Die viel zitierte Managerkrankheit ist das Unvermögen, sich zu entspannen, sobald es not tut. Wann es not tut sagt einem der Instinkt, doch eben diesen Instinkt haben die "Manager" (und das sind nicht nur die Wirtschaftsführer, sondern alle, die Arbeit und Verdienst zum Götzen erheben) eingebüßt.
Sie überhören, übersehen die Alarmsignale ihres Körpers, sie halten ihre werte Person so lange und so verbissen für unabkömmlich, bis sie plötzlich ganz und gar abkömmlich ist; am Ende ihrer schlaflosen Nächte steht auf einmal der große Schlaf.
Viel zu viele Menschen verstehen sich nicht darauf, jenen philosophi-schen Abstand zur Welt zu halten, der Weisheit oder Humor oder Faulheit heißt - vor allem in Deutschland, dem Tummelplatz des penetranten Fleißes, verstehen sie es nicht. Und das ist bedauerlich, weil sie eines mächtigen Kraftquells verlustig gehen, einer Erquik-kung, der keine andere gleichkommt.

Kusenberg, Kurt (1904 - 1983)


Werte

Die guten Dinge des Lebens
Sind alle kostenlos:
Die Luft, das Wasser, die Liebe.
Wie machen wir das bloß,
Das Leben für teuer zu halten,
Wenn die Hauptsachen kostenlos sind?
Das kommt vom zu frühen Erkalten.
Wir genossen nur damals als Kind
Die Luft nach ihrem Werte
Und Wasser als Lebensgewinn,
Und Liebe, die unbegehrte,
Nahmen wir herzeleicht hin.
Nur selten atmen wir richtig
Und atmen Zeit mit ein,
Wir leben eilig und wichtig
Und trinken statt Wasser Wein.
Und aus der Liebe machen
Wir eine Pflicht und Last.
Und das Leben kommt dem zu teuer,
Der es zu billig auffaßt.

Strittmatter, Eva (1930-2011)



Auch eine Motivation

Manchmal muß man sich geradezu asozial verhalten, um sich menschlich zu fühlen. Ich bin oft so ungesellig. Die Last der eigenen Unzulänglichkeit wiegt schwer. Wohin man auch schaut im Leben - man könnte es besser machen. Ich bin zu schlaff, zu faul, zu arm, zu wenig engagiert, nicht begehrenswert, zu schüchtern, zu häßlich, zu wenig aggressiv, zu wenig abgegrenzt, zu muffelig, zu abweisend, zu egoistisch, zu wenig aufmerksam, zu argwöhnisch, zu angestrengt, zu naiv, zu sorglos, zu depressiv, zu eigenbrötlerisch, zu eigensinnig, zu dramatisch, zu lustlos, zu mit Schuldgefühlen geplagt, zu opportu nistisch, zu anpassungsfähig, zu wenig angepaßt, zu aufmüpfig, zu widerborstig, zu ironisch, zu moralisch, zu fett, zu größenwahnsinnig, zu gefräßig, zu wenig loyal, amoralisch, apathisch.
Verhängnisvolle Jahre liegen hinter mir - und vor mir. Das Verhängnis begann mit meiner Geburt. Meine Eltern taten ihr bestes - daß ich nicht gedeihen konnte, lag an mir. Ich bin von Natur aus unzulänglich. Bis jetzt habe ich nie gelernt, mit diesem Defekt zu leben - das tut mir leid.
Es gibt Kinder, die in abgeschlossenen Zelt-Welten leben müssen, von Geburt an, weil die Luft, die Nahrung, die Berührung mit der Welt sie töten würde. Sie haben einen angeborenen Defekt, eine Immunschwäche; ihre Körper, ihre Seelen, können Angriffe nicht abwehren, sie haben keine Basis, keine Kraft. Sie sind mit dieser Unzulänglichkeit geboren worden und leben meist nicht lange.
Meine Unzulänglichkeiten sind vielfältiger. Es gleicht einer Sisyphusarbeit, sie auszumerzen. Kaum erscheint an einer Stelle eine gerodete, vom Unkraut befreite Fläche, schweift der Blick über das Gelände, und im Osten schießt alles ins Kraut, im Westen weht der Wind die nicht aufgeharkten Blätter umher, im Norden wird der Müllhaufen von Vögeln und Nagern durchwühlt, im Süden aalen sich alle träge in der Sonne, keiner kommt zur Hilfe - man muß alles alleine machen. Es ist sehr viel Arbeit in diesem Gelände zu tun - man kommt da meistens nicht nach; so viel Arbeit, daß man nie richtig ausruhen kann. Das Unkraut wächst weiter, der Müll wird weiter produziert, die Natur ist niemals ordentlich und sauber, die Menschen, die sich träge in ihr aalen auch nicht.
Andere scheinen das unbekümmerter hinzunehmen, aber sie sind auch nicht mit solchen Mängeln geboren, wie ich. Sie gehen einer ordentlichen Arbeit nach und dürfen ihren Feierabend genießen, denn morgen gehen sie wieder ihrer ordentlichen Arbeit nach. Oft brauchen sie ihren Feierabend gar nicht zu genießen, sie können ihren Wagen waschen, ihren Rasen mähen, ihre Kinder schelten oder ihre Frauen auf der Wohnzimmercouch küssen. Wenn sie wollen, können sie sich vor dem Fernseh- oder Computerschirm abschalten. Ich kann mich nicht abschalten, noch etwas genießen, denn wegen meiner Unzulänglichkeit ist kein Abschalten, kein Ausruhen, genießen, andere schelten oder küssen möglich.
Was bleibt? Wenn man nur genug arbeitet, sich genügend anstrengt, dann gelingt es vielleicht, die Tatsache der Unzulänglichkeit vergessen zu machen. Wenn man ununterbrochen tätig ist, um Ordnung zu schaffen, überhaupt um zu schaffen, dann können die Makel vielleicht geglättet werden. Man kann es nur probieren. Man kann nur sein bestes geben. Es ist wahrscheinlich nicht genug, aber man muß es tun.

Sophie Warning (1957)


Die Schnelligkeit, mit der in Deutschland nach der Währungsreform wieder der Alltag einkehrte und überall mit dem Wiederaufbau begonnen wurde, war Gesprächsstoff in ganz Europa. Zweifellos arbeiten nirgends Menschen so hart und so lang wie in Deutschland. Es ist eine wohlbekannte Tatsache, daß die Deutschen seit Generationen ins Arbeiten vernarrt sind, und auf den ersten Blick scheint ihre augenblickliche Betriebsamkeit den Eindruck zu nähren, Deutschland sei möglicherweise immer noch die gefährlichste europäische Nation. Außerdem gibt es eine Menge starker Arbeitsanreize. Die Arbeitslosigkeit nimmt schlimme Ausmaße an, und die Stellung der Gewerkschaften ist so schwach, daß die Arbeiter keine Bezahlung von Überstunden verlangen und häufig darüber nicht einmal ihrer Gewerkschaft berichten; die Lage auf dem Wohnungssektor ist schlimmer, als man angesichts der vielen Neubauten vermutet: die Errichtung von Geschäfts- und Bürogebäuden für die großen Industrie- und Versicherungsunternehmen hat unbestrittenen Vorrang vor dem Bau von Wohnhäusern, und deshalb gehen die Leute lieber samstags und sonntags arbeiten, als zu Hause in der überfüllten Wohnung zu bleiben. Beim Wiederaufbau wird, wie in fast allen Lebensbereichen, alles darangesetzt (oft auf eine äußerst spektakuläre Weise), ein getreues Abbild der ökonomischen und industriellen Vorkriegsverhältnisse zu schaffen, während für das Wohlergehen der Masse der Bevölkerung nur sehr wenig getan wird.
Doch keine dieser Tatsachen liefert eine Erklärung, warum aus der Atmosphäre fieberhafter Geschäftigkeit nur eine vergleichsweise mittelmäßige Produktion resultiert. Unter der Oberfläche hat die Einstel-lung der Deutschen zur Arbeit einen tiefen Wandel erfahren. Die alte Tugend, unabhängig von den Arbeitsbedingungen ein möglichst vortreffliches Endprodukt zu erzielen, hat einem blinden Zwang Platz gemacht, dauernd beschäftigt zu sein, einem gierigen Verlangen, den ganzen Tag pausenlos an etwas zu hantieren. Beobachtet man die Deutschen, wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern und für die zerstörten Wahrzeichen ein Achselzucken übrig haben oder wie sie es einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze übrige Welt nicht loslassen, dann begreift man, daß die Geschäftigkeit ihre Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist. Und man möchte aufschreien: Aber das ist doch alles nicht wirklich - wirklich sind die Ruinen; wirklich ist das vergangene Grauen, wirklich sind die Toten, die ihr vergessen habt.

Arendt, Hannah (1906 - 1975)



Der Arbeitmann

Wir haben ein Bett, wir haben ein Kind,
mein Weib!
Wir haben auch Arbeit, und gar zu zweit,
Und haben die Sonne und Regen und Wind,
Und uns fehlt nur eine Kleinigkeit,
Um so frei zu sein, wie die Vögel sind:
Nur Zeit.

Wenn wir sonntags durch die Felder gehn,
Mein Kind,
Und über den Ähren weit und breit
Das blaue Schwalbenvolk blitzen sehn:
O, dann fehlt uns nicht das bißchen Kleid,
Um so schön zu sein, wie die Vögel sind:
Nur Zeit.

Nur Zeit! Wir wittern Gewitterwind,
Wir Volk.
Nur eine kleine Ewigkeit;
Uns fehlt ja nichts, mein Weib, mein Kind,
Als all das, was durch uns gedeiht,
Um so froh zu sein, wie die Vögel sind:
Nur Zeit!

Dehmel, Richard (1863 - 1920)



Der gewissnhafte Maurer

Ich hab' ein Haus in Berlin, das ist noch wie neu,
Nur oben, da ging mal etwas entzwei.
Nun fehl'n da oben ein paar Steine, 's müssen neue dorthin,
Ich sagt' zu 'nem Maurer: "Na, die sind doch bald drin?"
"Aber gewiß, lieber Mann, da fang'n wir gleich morgen an!"
Also um acht soll er ankomm'n - 'ne Stunde vergeht -
Da seh' ich ihn rankomm'n - ich sage: "'s ist spät!"
"Nee", sagt er, "'s is neune - 's ist die richtige Zeit.
Der Weg zählt doch mit - und ick wohne sehr weit.
Ick wollt die Straßenbahn nehm'n - keine zu seh'n.
Ick ruf 'n Auto - 'Besetzt!' - na, da mußt ich doch gehn.
Aber nun gehn wir ran - nu fang'n wir gleich an."
Na, nun sieht er sich um, - recht gründlich, exakt -
Was er mitgebracht hat - wird ausgepackt. -
Er guckt rauf nach dem Haus. - "Da fehlt'n Stein an dem Fleck."
Also nimmt er 'nen Stein - und legt ihn gleich wieder weg.
Er sucht erst 'ne Leiter, um nach oben zu gehn, -
Trägt sie acht Schritte weiter, - da schlägt es zehn.
Na, nun frühstückt er 'n bißken, holt sein Pülleken raus, -
Steckt die Pfeife in Brand - die geht fünfzehn mal aus. -
Und wie sie brennt, sagt er dann: "Nu fang'n wir gleich an."
Er nimmt noch 'ne Prise - es ist über elbe -
Dann nimmt er den Stein - 's ist noch immer derselbe -
Da muß er niesen - der Kopf wird ihm schwer.
Er legt den Stein wieder weg - denn sonst gibts 'n Malheur.
Er sucht nach 'nem Tuch - er hat leider kein's -
Ich sage: "'s gut - hier haben Sie mein's."
Nun fühlt er sich wieder wohl - wie'n Fisch in der Elbe
Und dann nimmt er den Stein, 's ist noch immer derselbe -
Und will auf die Leiter - da schlägt es zwölbe.
Na, nu legt er'n Stein wieder weg - seine Frau bringt das Essen -
Nach so 'ner Arbeit, da schmeckt's - 's wird feste gegessen.
Sie setzt sich zu ihm, - er setzt sich zu ihr,
Es gibt Karbonade und Gurken und Bier. -
Dann liest er die Zeitung und sagt entrüstet zu ihr:
"Du, da streiken sie wieder - die soll'n schaffen, wie wir."
Dann gibt er ihr 'n Küßken,
Dann schläft er 'n bißken
Und dann schlägt die Uhr zwei -
Da ist schon die kurze Pause wieder vorbei. -
"Nu", sagt er, "geht's ran -
Jetzt fang'n wir gleich an!"
Nun wird der Lehm umgerührt, - der weiche, der gelbe -
Und dann nimmt er den Stein - 's ist noch immer derselbe -
Da wird ihm schlecht - die Gurken, das Bier -
Er legt den Stein wieder weg und nimmt sein Zeitungspapier,
denn der Stein wäre weniger geeignet dafür -
Und geht an 'ne Tür
Und da steht: "Hier!"
Kommt nach drei wieder raus aus dem kleinen Gewölbe
Und dann nimmt er den Stein - 's ist noch immer derselbe -
Und geht nun wirklich, ohne Rast, ohne Ruh',
Mit dem Stein auf die Leiter - wat sagen Sie nu? -
Die hat zwanzig Sprossen - jede 'n Fußbreit entfernt,
Aber er geht unverdrossen, - gelernt ist gelernt.
Da, bei der achtzehnten hält er. Die Uhr schlägt vier.
's ist Feierabend - und er steht hier -
Nicht oben, nicht unten - die Sache geht schief.
Er darf nicht mehr weiter - nach'm Tarif.
Er hat noch zwei Sprossen, - aber er darf sie nicht gehn -
Oder achtzehn nach unten - ja, aber nicht mit'n Steen.
Was soll er nun machen - so nah am Ziel?
Er schwankt zwischen Arbeits- und Pflichtgefühl.
Aber's Pflichtgefühl siegt - "'s ist egal", sagt er grob
Und er läßt den Stein fallen - und mir uff'n Kopp. -
Und wie ich schimpfe, da sagt er:
"Warum stehn Sie denn hier? -
Wir brauch'n Ihr'n Kopp nich -
Sie könn' ja schaffen, wie wir. -"

Reuter, Otto (1870 - 1931)



er Moment

Der Moment, wenn du nach vielen Jahren
harter Arbeit und einer langen Reise
in der Mitte deines Zimmers, Hauses,
halben Morgens, Anwesens, deiner Insel,
deines Landes stehst
und endlich weißt, wie du dahin gekommen bist,
und sagst: das gehört mir,

ist derselbe Moment, in dem die Bäume ihre
weichen Arme von dir lösen,
die Vögel ihre Sprache zurücknehmen,
die Steilküsten Risse zeigen und einstürzen,
die Luft sich wie eine Welle von dir zurückzieht
und du nicht mehr atmen kannst.

Nein, flüstern sie. Dir gehört gar nichts.
Du warst ein Besucher, der immer wieder
den Hügel erklomm und seine Flagge hißte.
Wir haben dir nie gehört.
Du hast uns nicht gefunden.
Es war immer andersherum.

Atwood, Margaret (1939)



Die Menschen arbeiten gemeinhin allzu viel, um noch sie selbst zu sein. Die Arbeit ist ein Fluch. Doch der Mensch hat diesen Fluch in eine Wollust umgemünzt. Aus allen Kräften und nur um der Arbeit willen arbeiten, sich an der Anstrengung laben, die unweigerlich zu belanglosen Errungenschaften führt, sich vorstellen, daß man sich nur durch objektive und unausgesetzte Arbeit verwirklichen kann, darin liegt das Empörende und Unbegreifliche. Die beharrliche und ununterbrochene Arbeit verblödet, trivialisiert und entpersönlicht. Sie entrückt die Beschäftigungen und Interessen der subjektiven Zone und verlagert sie in eine objektive Sphäre der Dinge, auf eine schale Ebene der Objektivität. Der Mensch kümmert sich dann nicht mehr um sein persönliches Schicksal, um seine innere Bildung, um die Glut innerer Phosphoreszenz und um die Verwirklichung einer leuchtenden Gegenwart, sondern um Tatsachen und Dinge. Die wahre Arbeit, die eine fortwährende Verklärungstätigkeit sein könnte, sinkt zu einer Betätigung der Entäußerung, des Austritts aus dem Zentrum des Wesens herab. Es ist bezeichnend, daß in der modernen Welt die Arbeit auf eine ausschließlich äußere Tätigkeit hindeutet. Deshalb verwirklicht der Mensch nicht sich durch sie, sondern er verwirklicht irgend etwas. Der Umstand, daß jeder Mensch einer Karriere nachgehen, in irgendeine Lebensform, die ihm fast niemals entspricht, eintreten muß, ist Ausdruck der Vertrottelungstendenz durch Arbeitswut. Arbeiten, um zu leben: diese Fatalität ist beim Menschen schmerzlicher als beim Tier. Denn dessen Tätigkeit ist derart organisch, daß sie mit dem eigenen Dasein unzertrennlich verschmilzt, während sich der Mensch durchaus des beträchtlichen Mehr, der Formenvielfalt der Arbeit, be-wußt ist. In der Arbeitsraserei des Menschen bricht eine seiner Neigungen hervor, das Böse zu lieben, wenn es verhängnisvoll ist und häufig vorkommt. Und in der Arbeit hat der Mensch sich selbst vergessen. Aber nicht hat er sich vergessen, weil er die arglose und delikate Naivität, sondern die an Schwachsinn grenzende Selbstentäußerung erreicht hat. Durch die Arbeit ist er vom Subjekt zum Objekt degradiert worden: ein der Wildheit beraubtes Tier. Statt daß der Mensch eine durchstrahlende Wesenheit, ein sonnenhaftes und funkelndes Dasein anstrebt, anstatt für sich selbst zu leben - nicht im Sinne von Selbstsucht, sondern von innerem Wachstum -, ist er zum sündigen und inkompetenten Knecht der Wirklichkeit von draußen verfallen. Wo sind in einem solchen Dasein noch Ekstasen und Visionen? Wo gibt es noch den höchsten Wahnsinn, wo die echte Wonne des Bösen? Denn die negative Wollust, die aus der Begeisterung für die Arbeit herrührt, ist vom alltäglichen Elend und von der menschlichen Seichtigkeit, von einer abscheulichen und peripheren Kleinlichkeit angekränkelt. Warum entschließen sich die Menschen denn nicht, mit der bisherigen Arbeit zu brechen und mit einer anderen zu beginnen, bei der keinerlei Ähnlichkeit mehr zu der Arbeit besteht, an die sie sich verschwendet haben? Ist es denn nötig gewesen, Pyramiden, Paläste, Tempel und Burgen zu errichten? Reicht das subjektive Bewußtsein der Ewigkeit, das Bewußtsein jener Erfüllung im Überbewußtsein nicht aus? Wenn frenetische Tätigkeit, unaufhaltsamer Arbeitsdrang und äußere Rastlosigkeit etwas zerstört haben, dann ist ihnen gewiß der Sinn für die Ewigkeit zum Opfer gefallen. Betätigung ist Verneinung der Ewigkeit. Je mehr das Erringen von Gütern im Zeitlichen wächst, je mehr sich die äußere Arbeit steigert, desto unzugänglicher, entfernter und unerreichbarer wird die Ewigkeit. Von daher rührt die beschränkte Perspektive aller Arbeitsamen und Tatkräftigen und ihre heillose Plattheit des Denkens und Fühlens. Arbeit bedeutet Abseitigkeit. Und obgleich ich der Arbeit weder passive Kontemplation noch verschwommene Träumerei gegenüberstelle, sondern die durchdringende Verklärung des Wesens, ziehe ich der rasenden, intoleranten und unumschränkten Tätigkeit dennoch die Faulheit vor, die alles versteht und rechtfertigt. Um die moderne Welt zum Leben wachzurütteln, muß das Lob der Faulheit angestimmt werden, jener Faulenzerei, die innerliche Gelassenheit und ein allesduldendes Lächeln durchtränken. Ein Müßiggänger hat unendlich viel mehr Sinn für Metaphysik als der Betriebsame. Es kann jedoch mitunter vorkommen, daß der Müßiggang genauso wie die Anstrengung ein Anzeichen von Imbezillität ist. Deshalb kann das wahre Lob nur der Verklärung gelten.

Cioran, E. M. (1911 - 1995)



Geschäftig sind die Menschenkinder,
die große Zunft von kleinen Meistern,
als Mitbegründer, Miterfinder
sich diese Welt zurecht zu kleistern...

Welch ein Gedrängel und Getriebe
von Lieb und Haß bei Nacht und Tage,
und unaufhörlich setzt es Hiebe,
und unaufhörlich tönt die Klage.

Gottlob, es gibt auch stille Leute,
die meiden dies Gewühl und hassen's
und bauen auf der andren Seite
sich eine Welt des Unterlassens.

Busch, Wilhelm (1832 - 1908)



Interview mit mir selbst

Ich bin vor nicht zu langer Zeit geboren
In einer kleinen, klatschbeflissenen Stadt.
Die eine Kirche, zwei bis drei Doktoren
Und eine große Irrenanstalt hat.

Mein meistgesprochenes Wort als Kind war "nein"
Ich war kein einwandfreies Mutterglück.
Und denke ich an jene Zeit zurück:
Ich möchte nicht mein Kind gewesen sein.

Im letzten Weltkrieg kam ich in die achte
Gemeindeschule zu Herrn Rektor May.
- Ich war schon zwölf, als ich noch immer dachte,
Daß, wenn die Kriege aus sind, Frieden sei.

Zwei Oberlehrer fanden mich begabt,
Weshalb sie mich - zwecks Bildung - bald entfernten;
Doch was wir auf der hohen Schule lernten,
Ein Wort wie "Abbau" haben wir nicht gehabt.

Beim Abgang sprach der Lehrer von den Nöten
Der Jugend und vom ethischen Niveau -
Es hieß, wir sollten jetzt ins Leben treten.
Ich aber leider trat nur ins Büro.

Acht Stunden bin ich dienstlich angestellt
Und tue eine schlechtbezahlte Pflicht.
Am Abend schreib ich manchmal ein Gedicht.
(Mein Vater meint, das habe noch gefehlt.)

Bei schönem Wetter reise ich ein Stück
Per Bleistift auf der bunten Länderkarte.
- An stillen Regentagen aber warte
Ich manchmal auf das sogenannte Glück...

Kaléko, Mascha (1912 - 1974)



Müßiggängers Abendgebet

Wieder ist ein Tag zu Ende.
Oh, wie freun sich meine Hände!
Hab' ich auch nicht viel gemacht,
hab' ich doch den Tag verbracht.

Endrikat, Fred (1890 - 1942)



Über den Nutzen ungedruckter Gedichte

Zum Schreiben meiner Gedichte, die niemand lesen wird,
verbrauche ich weißes Papier, damit die Fabriken
blühen, das Kapital sich mehrt, dem Manne an der Walze
der Arbeitsplatz bleibt. Ich gestehe es, eigentlich
hatte ich anderen Nutzen erwartet von meinen Talenten.

Münsterer, Otto Heinrich (1900 - 1974)



Vom Geldverdienen

Wir müssen uns mit vielen Dingen plagen,
An die wir in der Kindheit nie gedacht.
Wir müssen uns durch die Berufe schlagen,
Denn Geldverdienen ist wie eine Schlacht.
Da heißt es fest in fremde Reihen brechen,
Zum Angriff übergehn um Brot und Lohn,
Um jeden Posten ist ein Hau'n und Stechen,
Der Stellungskrieg entbrennt um die Pension.
Für wen, für was?
Für dies, für das:
Brot kostet, Glut kostet.
Kleid kostet, Hut kostet.
Geld kostet jedes Kleidungsstück.
Milch kostet, Gas kostet,
Lust kostet, Spaß kostet.
Geld kostet auch das Sonntagsglück.
Das will verdient sein.
Das will verdient sein!

Wir sind als Träumer in die Welt gezogen
Und stießen an die Pforten der Gewalt.
Die wilden Wünsche sind davongeflogen,
All unser Wünschen kreist um das Gehalt.
Das heißt Gedanken vieler Chefs erraten
Und ihren Pförtnern um die Bärte gehn,
Das heißt ein Leben bau'n auf Monatsraten
Und endlich auf Beförd'rungslisten stehn!
Für wen, für was?
Für dies, für das:
Tisch kostet, Tuch kostet,
Bild kostet, Buch kostet,
Geld kostet jeder Feiertag.
Mull kostet, Jod kostet,
Arzt kostet, Tod kostet,
Geld kostet jeder Schicksalsschlag.
Das will verdient sein.
Das will verdient sein!

Schnog, Karl (1897 - 1964)



Zäzilie

Zäzilie soll die Fenster putzen,
sich selbst zum Gram, jedoch dem Haus zum Nutzen.

"Durch meine Fenster muß man", spricht die Frau,
"so durchsehn können, daß man nicht genau
erkennen kann, ob dieser Fenster Glas
Glas oder bloße Luft ist. Merk dir das."
Zäzilie ringt mit allen Menschen-Waffen ...
Doch Ähnlichkeit mit Luft ist nicht zu schaffen.
Zuletzt ermannt sie sich mit einem Schrei -
und schlägt die Fenster allesamt entzwei!
Dann säubert sie die Rahmen von den Resten,
und ohne Zweifel ist es so am besten.
Sogar die Dame spricht zunächst verdutzt:
"So hat Zäzilie ja noch nie geputzt."

Doch alsobald ersieht man, was geschehn,
und sagt einstimmig: "Diese Magd muß gehn."

Morgenstern, Christian (1871 - 1914)



Als ich es zuweilen unternommen habe, die ruhelose Geschäftigkeit der Menschen zu betrachten, wie auch die Gefahren und Strapazen, denen sie sich bei Hofe und im Kriege aussetzen, habe ich häufig gesagt, daß das ganze Unglück der Menschen aus einem einzigen Umstand herrühre, nämlich daß sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können.
Wenn ein Mann, der genug Vermögen zum leben hat, es verstünde, vergnügt zu Hause zu bleiben, so würde er nicht ausziehen, um über das Meer zu fahren oder sich an der Belagerung einer Festung zu beteiligen (...) Welche Lage man sich auch immer vor Augen führen mag, wenn man alle Güter zusammenhäuft, die uns gehören können, so ist die Königswürde doch die schönste Stellung der Welt.
Und trotzdem, wenn man sich denkt mit ihr und allen Befriedigungen versehen zu sein, wenn der Betreffende ohne Zerstreuung ist und man ihn Betrachtungen und Überlegungen darüber, was er ist, anstellen läßt - so wird dieses schwache Glück ihm nichts helfen - er wird notgedrungen in Gedanken über jene Geschehnisse verfallen, die ihn bedrohen, über die Empörungen, die eintreten können und schließlich über den Tod und die Krankheiten, die unausbleiblich sind, so daß er nun, wenn ihm das fehlt, was man Zerstreuung nennt, unglücklich ist und unglücklicher als der Geringste seiner Untertanen, der spielt und sich zerstreut (...)
Daher kommt es, daß die Menschen das Getümmel und die Aufregung so gern haben. Daher kommt es, daß das Gefängnis eine so schreckliche Qual ist, daher kommt es, daß die Freude an der Einsamkeit etwas Unbegreifliches ist. Und schließlich ist es die große Ursache des Glücks in der Stellung der Könige, daß man unablässig versucht, sie zu zerstreuen und ihnen alle Arten von Vergnügungen zu verschaffen. Der König ist von Leuten umgeben, die nur daran denken, den König zu zerstreuen und ihn davon abzuhalten, an sich selbst zu denken. Denn er ist unglücklich, so sehr er auch König ist, sobald er daran denkt.

Pascal, Blaise (1623 - 1662)



bericht

was sich den ganzen tag so tut
was sich das ganze jahr so tut
was sich die ganze zeit so tut
was sich halt so tut
was sich halt den ganzen tag so tut
was sich halt das ganze jahr so tut
was sich halt die ganze zeit so tut
halt was sich so tut
halt was sich den ganzen tag so tut
halt was sich das ganze jahr so tut
halt was sich die ganze zeit so tut
was sich so tut halt
was sich den ganzen tag so tut halt
was sich das ganze jahr so tut halt
was sich die ganze zeit so tut halt

jandl, ernst (1925 - 2000)



Da ist der freindliche Nachbar, vermutlich ein eben pensionierter Kollege, den wir Sisyphos getauft haben, weil er seit nunmehr zehn Tagen ununterbrochen umzieht. Er hat ein neues Ferienhaus gemietet und muß nun seine Habseligkeiten von dem einen zum anderen Haus bringen. Obwohl die beiden Behausungen nur etwa 60 Meter voneinander entfernt sind, dauert der Umzug an. Der Nachbar hat offenbar in seinem Feriendomizil eine solche Menge von Gegenständen angesammelt, daß der Abschluß der Umzugsarbeiten nicht absehbar ist. Der Hauptteil der Umzugsmasse besteht aus Feuerholz, das der Mann in einer Kiepe vom unteren in das obere Haus trägt. Da er nicht mehr jung ist, strengt ihn die Arbeit sehr an. Wenn er mit seiner Last an unserer kleinen Terrasse vorbeigeht, kann er kein Wort reden, ganz beschäftigt mit dem Wälzen seines Steins. Aber wenn er mit der leeren Kiepe zurückkommt, sagt er schon einmal ein paar Worte, gewinnt auch - wie der Sisyphos Camus - Distanz zu seinem Tun. (...) Aber kaum eine Viertelstunde später kommt er dann wieder als allegorische Figur sinnloser Mühsal an uns vorbei, stumm, einen Fuß vor den anderen setzend. Sisyphos hatten die Götter zum Wälzen des Steins verurteilt, unser Nachbar aber hat sich selbst zum Holzschleppen verdammt. Jedenfalls scheint es so. Soviel ist sicher, das Holz, das der Mann schleppt, wird er in seinem Leben nicht mehr verbrennen können, selbst wenn er 90 wird. Er muß also schon das Höllenfeuer alimentieren wollen.
Ich frage mich, ob meine Lebensweise sich so sehr von der des holzschleppenden Nachbarn unterscheidet, nur daß ich nicht Holz schleppe, sondern Bücher lese. Auch ich häufe etwas auf, was ich bis zu meinem Tode unmöglich werde nutzen können. Wenn ich an die Notizen und Zettelkästen denke, die ich im Verlauf meines Lebens angelegt und nur selten konsultiert habe, denn immer ergab sich neuer Lese- und Denkstoff, dann kann ich nicht umhin, eine gewisse Ähnlichkeit zu der zwanghaften Arbeitswut unseres Nachbarn festzustellen. Ja, ich muß mich sogar ernsthaft fragen, ob es in meinem Dasein etwas gibt, was den Augenblicken der Reflexion entspricht, die meinem Nachbarn immer dann zufallen, wenn er mit leerer Kiepe zu seiner selbst auferlegten Fron herabsteigt. Weiß ich doch, wie schwer es mir fällt, eine Pause zu machen, die Bücher einmal liegen zu lassen und untätig in die Landschaft zu schauen. Sogleich habe ich den Wunsch, das Gesehene festzuhalten, es meinem Gedächtnis einzuprägen, womit die Muße schon wieder in ein Stück Wahrnehmungsarbeit verwandelt wird.

Bürger, Peter (1936 - 2017)



Der Kapitän

Es war einmal ein Kapitän.
Doch das war ihm nicht anzusehn,
denn er war Zivilist.
Er sagte oft von seinem Schiff,
dieweil man Seemannslieder pfiff:
"Ich weiß nicht, wo es ist."

In seinem Beisein sprach sich's gut
von Wasserhosen, Ebbe, Flut,
von Steuermann und Maat,
von Booten (Dampf) und Booten (U).
Er selber hörte kaum noch zu.
Das wurde schließlich fad.

Man frug ihn drum ganz nebenbei,
warum er denn so schweigsam sei.
Wie sei das zu verstehn?
Man wisse doch genau, daß er
erfahren sei am weiten Meer,
als alter Kapitän.

Da dachte er ein Weilchen nach,
bevor er still und traurig sprach:
"In Ordnung! Ich gesteh,
denn einmal muß ich's ja gestehn:
Ich bin ja gar kein Kapitän.
Ich war auch nie zur See.

Ich bin Vertreter bei VW.
Nun wißt ihr es! Adieu! Ich geh!"
Und dann ging er nach Haus.
Bereits im nächsten Augenblick
sprach man von Geld und Politik.
Die Kinderzeit war aus.

Kreisler, Georg (1922-2011)



In der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 1925 träumte ich
merkwürdig deutliche Dinge.
Ich sah im Winkel zweier Häuserwände unter dem
Dachvorsprunge ein großes Vogelnest. Dasselbe war aber mit
einer Katzenfamilie besetzt. Die jungen Katzen waren
schon ordentlich groß, etwa vier Wochen alt. Und besonders
eine davon, ein dunkles Tigerkätzchen, hing übermütig
mit dem Hinterteil weit über den Rand des Nestes hinaus.
Unterhalb des Nestes lief ein nur ganz schmaler
Mauervorsprung, der Weg der Katzenmutter vom Nest in ein
offenes Fenster. Der Gedanke, daß der erste Ausgang der
Kleinen auf so gefahrvollem Weg erfolgen würde,
beängstigte mich und ich sann auf Abhilfe, der drohenden
Gefahr zu begegnen.
Dann sah ich mich beim Graben in einem Garten. Mühevoll war
etwas hergerichtet, aus dem etwas Ersprießliches
hervorgehen sollte.
Nun kam plötzlich ein Hund nach dieser Stelle gerannt
und wälzte sich in zerstörender Weise drauf herum,
die wühlende Schnauze zu Hilfe nehmend.
Man wunderte sich, daß ich ihn gewähren ließ.
Ich aber entschuldigte mich damit, daß ich ihn einen
"Sachverständigen" nannte.

Klee, Paul (1879 - 1940)



In Ordnung

Es ist alles in Ordnung:

Nessos Hemd ist von Lacoste.
Kain sitzt im Resozialisierungskurs römisch vier.
Prokrustes ist eine Hotelkette.
Keine Erinnye darf wegen ihres Geschlechts
oder ihres Motivs benachteiligt oder verfolgt werden.
Die Trompeten von Jericho sind das Erkennungszeichen
von Abbruchunternehmern.
Midas ist ein Bankangestellter
Medea Kindergärtnerin.
Prometheus besitzt alle Versicherungen.
Herakles leitet den örtlichen Judoclub.
Achilles ist ein Strumpffabrikant und
Siegfried ein Rückenmasseur.
Der Minotaurus ist unser Haustier
und über Zerberus
wacht der örtliche Tierschutzverein.

So sind hier die Leute.

Maiwald, Peter (1946-2008)



Leb wohl gegenwärtiges Leben,
das ich führe.

Du kannst so nicht bleiben.
Vornehm warst du.
Reiner Geist.
Still und einsam.

Leb wohl Ehre
beim ersten öffentlichen Schritt.

Klee, Paul (1879 - 1940)



mir schwebt
nichts vor
doch ist
um mich
ein flattern

jandl, ernst (1925 - 2000)



Mit leichtem Gepäck
Gewöhn dich nicht.
Du darfst dich nicht gewöhnen.
Eine Rose ist eine Rose.
Aber ein Heim
ist kein Heim.

Sag dem Schoßhund Gegenstand ab
der dich anwedelt
aus den Schaufenstern.
Er irrt. Du
riechst nicht nach Bleiben.

Ein Löffel ist besser als zwei.
Häng ihn dir um den Hals,
du darfst einen haben,
denn mit der Hand
schöpft sich das Heiße zu schwer.

Es liefe der Zucker dir durch die Finger,
wie der Trost,
wie der Wunsch,
an dem Tag
da er dein wird.

Du darfst einen Löffel haben,
eine Rose,
vielleicht ein Herz
und, vielleicht,
ein Grab.

Domin, Hilde (1912 - 2006)



Niemals

Wonach du sehnlich ausgeschaut,
Es wurde dir beschieden.
Du triumphierst und jubelst laut:
Jetzt hab ich endlich Frieden!

Ach, Freundchen, rede nicht so wild.
Bezähme deine Zunge.
Ein jeder Wunsch, wenn er erfüllt,
Kriegt augenblicklich Junge.

Busch, Wilhelm (1832 - 1908)



O Mitmensch, willst Du sicher sein

O Mitmensch, willst du sicher sein
in deinem Treiben und Getue,
so schau in Nachbars Kämmerlein,
in Nachbars Bett, in Nachbars Truhe.
Und wie er's hält und wie er's macht,
richt deinen Wandel ein desgleichen,
auf daß der Nachbar in der Nacht
getrost darf in dein Zimmer schleichen.
So wirst du in der Sympathie
der Zeitgenossen wohl bestehen,
und niemand braucht als Schweinevieh
und Lumpen scheel dich anzusehen.
Nur das Besondere mißfällt,
das Eigne und Originale.
Ein kluger Mitmensch aber hält
sich allezeit an das Normale.

Mühsam, Erich (1878 - 1934)



... Seine Person hat er zu einem Gegenstand gemacht, sein hartnäckiges Geheimnis ins Allgemeine verwässert, seine unaussprechliche Wirklichkeit zu Zeichen destilliert. Der für ihn einzig mögliche Roman würde zu einem Buch unter Büchern werden, welches das Massenschicksal der anderen Bücher teilt, darauf wartend, daß vielleicht der Blick des raren Käufers darauf fällt. Sein Leben würde zum Leben eines Schriftstellers werden, der seine Bücher schreibt und schreibt, bis er sich völlig ausgezehrt und zum Skelett geläutert hat, befreit von allem überflüssigen Plunder: dem Leben.
Sisyphos - so wurde uns berichtet - müssen wir uns als einen glücklichen Menschen vorstellen. Ganz gewiß. Doch auf ihn lauert das Erbarmen. Sisyphos - und der Arbeitsdienst - sind sicher ewig; aber der Fels ist nicht unsterblich. Auf seinem holprigen Weg, nachdem er weiter und weiter gewälzt wurde, wetzt er sich ab, und Sisyphos erkennt plötzlich, wie er, zerstreut vor sich hin pfeifend, schon lange nur noch einen grauen Steinbrocken im Staub vor sich her kickt.
Was macht er jetzt wohl damit? Sicher bückt er sich, hebt ihn auf, steckt ihn in die Tasche, nimmt ihn mit nach Hause - schließlich gehört er ja ihm. In seinen leeren Stunden - und jetzt erwarten ihn nur noch leere Stunden - holt er ihn bestimmt hin und wieder hervor. Sich anzustrengen, um ihn bergauf zu wälzen, dem Gipfel entgegen, wäre natürlich lächerlich: Aber mit seinen vom Star erblindeten, greisen Augen betrachtet er ihn wieder und wieder, als erwäge er noch immer das Gewicht, den Griff. Er flicht seine zittrigen, gefühllosen Finger um ihn und wird ihn gewiß auch im Augenblick des allerletzten Anlaufs umklammert halten.

Kertész, Imre (1929-2016)



Sisyphos III

Für alle
die den Verläßlichen
lieben. Immer
weiß man wo
er sich gerade
befindet, bergauf
bergab.

Aber jetzt: Das hält
keiner aus! Die Rufe
die Schreie, das Geheule
unerträgliches Gegrein
bei Tag und Nacht
auch sonntags Sisyphos:
Wo ist mein Stein?

Maiwald, Peter (1946-2008)



Sisyphos I

Hau ab, Mensch, elender
Angeber mit Mühe, Lastesel
ohne Sinn und Ergebnis.
Kein Mitleid mit dem.
Beim dritten Mal läßt man's,
oder beim siebten bei langer Leitung.
Der Stein wär besser
für ein Haus oder eine Straße,
wo's weitergeht. Arschloch!

Maiwald, Peter (1946-2008)



Sisyphos II

Was rollt der denn
den Berg rauf: das sträubt
spreizt sich am Hügel stemmt
Hand, Fuß und Kopf in jede Spalte
hängt an Wurzelwerk und Gräsern
und wird hochgebracht Sisyphos
schwitzt und wie er keucht
und wie sich das sperrt noch unterm Gipfel
Sisyphos und sein Mensch auf der Höhe
starren sich an für ein Grinsen
miteinander voneinander erlöst bevor
der mit Gewalt Geförderte wieder zurückfällt.

Maiwald, Peter (1946-2008)



Tätigkeit einer Buche

Ein Buchensamen von nur 0,02 Gramm Gewicht
Machte mittels Luft, Wasser und Sonnenlicht,
Also mittels Photosynthese und Assimilation,
Mengen von Zucker, Stärke und Ozon,
Vor allem - und dies quasi aus nichts! -
Ein Quantum Holz und 5000 Kilogramm Gewichts,
Das heißt, aus den ursprünglich 0,02 Gramm
Einen 12 Meter hohen und 2 Meter dicken Stamm,
Auch noch, als Zugabe: Farbe, Wärme und Duft,
Und das alles, wie gesagt, aus nichts als Luft!
(Ein, fern von allen Wirtschaftssystemen,
Von Anfang an aufstrebendes Unternehmen,
Und das Ganze ohne Klasse und Stand,
Ohne Gewerkschaft und Unternehmerverband!)

Kühner, Otto Heinrich (1921 - 1996)






Träume

Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht!
Bleibt wach, weil das Entsetzliche näher kommt.

Auch zu dir kommt es, der weit entfernt wohnt von den Stätten, wo Blut vergossen wird,
auch zu dir und deinem Nachmittagsschlaf,
worin du ungern gestört wirst.
Wenn es heute nicht kommt, kommt es morgen,
aber sei gewiß.

"Oh, angenehmer Schlaf
auf den Kissen mit roten Blumen,
einem Weihnachtsgeschenk von Anita, woran sie drei Wochen gestickt hat,
oh, angenehmer Schlaf,
wenn der Braten fett war und das Gemüse zart.
Man denkt beim Einschlummern an die Wochenschau von gestern abend:
Osterlämmer, erwachende Natur, Eröffnung der Spielbank in Baden-Baden,
Cambridge siegte gegen Oxford mit zweieinhalb Längen, -
das genügt, das Gehirn zu beschäftigen.

Oh, dieses weiche Kissen, Daunen aus erster Wahl!
Auf ihm vergißt man das Ärgerliche der Welt, jene Nachricht zum Beispiel:
Die wegen Abtreibung Angeklagte sagte zu ihrer Verteidigung:
Die Frau, Mutter von sieben Kindern, kam zu mir mit einem Säugling,
für den sie keine Windeln hatte und der
in Zeitungspapier gewickelt war.
Nun, das sind Angelegenheiten des Gerichtes, nicht unsre.
Man kann dagegen nichts tun, wenn einer etwas härter liegt als der andere,
Und was kommen mag, unsere Enkel mögen es ausfechten."

"Ah, du schläfst schon? Wache gut auf, mein Freund!
Schon läuft der Strom in den Umzäunungen, und die Posten sind aufgestellt."

Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!
Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen!
Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!
Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!

Eich, Günter (1907 - 1972)




vom drücken

etwas drückt
wenn einer spürt
daß etwas drückt

nichts drückt
wenn keiner spürt
daß etwas drückt

einer ist notwendig
der es spürt
damit etwas drückt

keiner ist notwendig
damit nichts drückt

jandl, ernst (1925 - 2000)










Weisser Mann Blues

Zwei Autos, drei Toiletten, ein Schwimmbad,
Bilder als Geldanlage, Kinder in der Privatschule ...
wir laden ein zu Shows oder Schlemmerei -
und doch fühlen wir uns nicht richtig, fühlen wir uns nicht gut.

Warum hilft Haben nichts?
Warum rettet Ausgeben nicht?
Warum nicht der Spaß - -
Warum nicht die Kultur - -
Warum summieren sich die Reklamen nicht zu etwas?

Wir können es uns leisten zu sagen: wir wissen
daß die Schwarzen höllisch schlecht behandelt werden.
Big Boss ist streng und dumm und muß gehn:
wir sagen es - und es hilft wie ein Aspro (Aspirin).
wir fühlen uns immer noch nervös, verwirrt und nicht ganz wohl.

Welcher Spezialist kann heilen, was wir haben -
den haben-wir, müssen-wir-haben-Blues,
den Gefriertruhen-, billiger im Großhandel-, Weltreise-
Blues?
Besoffen sind wir von dem wissen-alles-darüber-Fusel.
Wir platzen von dem Kwashiorkor (Proteinmangelkrankh.) der Bank.
Wir sind deprimiert vom Blues des weißen Mannes.

In den Hinterhöfen beten sie für uns.
In Soweto sehen sie unsere große Not.
In den Grenzgebieten verstehen sie uns.
In den Bantustans (den Schwarzen durch die Apartheidsregierung zugewiesene Reservate) warten sie darauf
uns auf die Schulter zu klopfen, unsere Hand zu halten.
Sie wissen es, sie wissen es,
für sie ist es keine Neuigkeit:
wir haben diesen Verlorener-Mann, Später-Mann,
Geld-Mann, Super-Mann
Weißer-Mann-Blues.

Abrahams, Lionel (1928 - 2004)




Wenn Du des morgens nicht gern aufstehen magst, so denke: ich erwache, um als Mensch zu wirken. Warum sollte ich mit Unwillen das tun, wozu ich geschaffen und in die Welt geschickt bin? Bin ich denn geboren, im warmen Bette liegen zu bleiben?
"Aber das ist angenehmer."
Du bist also zum Vergnügen geboren, nicht zur Tätigkeit, zur Arbeit? Siehst du nicht, wie die Pflanzen, die Sperlinge, die Ameisen, die Spinnen, die Bienen jedes ihr Geschäft verrichten und nach ihrem Vermögen der Harmonie der Welt dienen? Und du weigerst dich, deine Pflicht als Mensch zu tun, eilst nicht zu deiner natürlichen Bestimmung?
"Aber man muß doch auch ausruhen?"
Freilich muß man das. Indes hat auch hierin die Natur eine bestimmte Grenze gesetzt, wie sie im Essen und Trinken eine solche gesetzt hat. Du aber überschreitest diese Schranke, du gehst über das Bedürfnis hinaus. Nicht so in den Äußerungen deiner Tätigkeit; hier bleibst du hinter dem Möglichen zurück. Du liebst dich eben selbst nicht, sonst würdest du auch deine Natur und das, was sie will, lieben. Diejenigen, welche ihr Handwerk lieben, arbeiten sich dabei ab, vergessen das Bad und die Mahlzeit. Du aber achtest deine Natur weniger hoch, als der Erzgießer seine Bildformen, der Tänzer seine Sprünge, der Geizhals sein Geld, der Ehrgeizige sein bißchen Ruhm?
Auch diese versagen sich den Gegenständen ihrer Leidenschaft zulieb eher Nahrung und Schlaf, als daß sie die Vermehrung dessen unterlassen, was für sie so anziehend ist. Dir aber scheinen gemeinnützige Handlungen geringfügiger und der Anstrengung nicht so wert.

Aurel, Marc (121 - 180)




Wer nicht arbeitet, darf wohl essen, wenn ich ihm etwas zu essen schenken will, aber er hat keinen rechtskräftigen Anspruch aufs Essen. Er darf keines andern Kräfte für sich verwenden; ist keiner so gut, es freiwillig für ihn zu tun, so wird er seine eigenen Kräfte anwenden müssen, um sich etwas auszusuchen oder zuzubereiten, oder Hungers sterben, und das von rechts wegen.

Fichte, Johann Gottfried (1762 - 1814)














Wiegenlied für sich selber

Schlafe, alter Knabe, schlafe!
Denn du kannst nichts Klügres tun,
als dich dann und wann auf brave
Art und Weise auszuruhn.

Wenn du schläfst, kann nichts passieren...
Auf der Straße, vor dem Haus,
gehn den Bäumen, die dort frieren,
nach und nach die Haare aus.

Schlafe, wie du früher schliefst,
als du vieles noch nicht wußtest
und im Traum die Mutter riefst.
Ja, da liegst du nun und hustest!

Schlaf und sprich wie früher kindlich:
"Die Prinzessin drückt der Schuh".
Schlafen darf man unverbindlich.
Drücke beide Augen zu!

Mit Pauline schliefst du gestern.
Denn mitunter muß das sein.
Morgen kommen gar zwei Schwestern!
Heute schläfst du ganz allein.

Hast du Furcht vor den Gespenstern,
gegen die du neulich rangst?
Mensch, bei solchen Doppelfenstern
hat ein Deutscher keine Angst!

Hörst du, wie die Autos jagen?
Irgendwo geschieht ein Mord.
Alles will dir etwas sagen.
Aber du verstehst kein Wort...

Sieben große und zwölf kleine
Sorgen stehen um dein Bett.
Und sie stehen sich die Beine
bis zum Morgen ins Parkett.

Laß sie ruhig stehn und lästern!
Schlafe aus, drum schlafe ein!
Morgen kommen doch die Schwestern,
und da mußt du munter sein.

Schlafe! Mache eine Pause!
Nimm, wenn nichts hilft, Aspirin!
Denn, wer schläft, ist nicht zu Hause,
und schon geht es ohne ihn.

Kästner, Erich (1899 - 1974)




ARBEIT

Jeden Morgen schreit der Wecker
jagt die Menschen aus den Betten.
Egal ob Schuster oder Bäcker,
jeder will die Wirtschaft retten.
Von den Bonzen angetrieben
produziern sie Massenware.
Wären sie zuhaus geblieben
gäb es keine Modezare.
Handwerk heißt von Hand gemacht,
unser Werk tun heut Maschinen
keiner weiß mehr, wie man lacht,
jeder will mehr Geld verdienen.
Nicht die Arbeit ist verdorben,
nur die Art, wie wir sie tun.
Der Sinn der Arbeit ist gestorben,
laßt den Unsinn endlich ruhn.

Arpan



Mit dem äußersten Unwillen dachte ich nun an die schlechten Menschen, welche den Schlaf vom Leben subtrahieren wollen. Sie haben wahrscheinlich nie geschlafen, und auch nie gelebt. Warum sind denn die Götter Götter, als weil sie mit Bewußtsein und Absicht nichts tun, weil sie das verstehen und Meister darin sind? Und wie streben die Dichter, die Weisen und die Heiligen auch darin den Göttern ähnlich zu werden! Wie wetteifern sie im Lobe der Einsamkeit, der Muße, und einer liberalen Sorglosigkeit und Untätigkeit! Und mit großem Recht: denn alles Gute und Schöne ist schon da und erhält sich durch seine eigne Kraft. Was soll also das unbedingte Streben und Fortschreiten ohne Stillstand und Mittelpunkt? Kann dieser Sturm und Drang der unendlichen Pflanze der Menschheit, die im Stillen von selbst wächst und sich bildet, nährenden Saft oder schöne Gestaltung geben? Nichts ist es, dieses leere unruhige Treiben, als eine nordische Unart und wirkt auch nichts als Langeweile, fremde und eigne. Und womit beginnt und endigt es, als mit der Antipathie gegen die Welt, die jetzt so gemein ist? Der unerfahrne Eigendünkel ahnet gar nicht, daß dies nur Mangel an Sinn und Verstand sei und hält es für hohen Unmut über die allgemeine Häßlichkeit der Welt und des Lebens, von denen er doch noch nicht einmal das leiseste Vorgefühl hat. Er kann es nicht haben, denn der Fleiß und der Nutzen sind die Todesengel mit dem feurigen Schwert, welche dem Menschen die Rückkehr ins Paradies verwehren.

Schlegel, Friedrich (1767 - 1845)
aus: Friedrich Schlegel, Idylle über den Müßiggang



DAS ZIEL

Das Ziel ist an mir
vorübergegangen

Als ich's erkannte
war es schon
am Horizont
angelangt

und verlor mich
aus den Augen


Strittmatter, Eva (1930-2011)















EMPORGEKOMMENER ARBEITERDICHTER

Jener weithin bekannte H. P. Richter,
Seit Anfang Sozialist und Arbeiterdichter,
Ist inzwischen, wie man hörte, arriviert,
Hat sich am Starnberger See etabliert
Und trägt eine - was er früher nie hatte -
Zwar ebenfalls rote, doch seidene Krawatte,
Kurz, er, der vordem so viel schlichter,
Ist jetzt zumindest Vorarbeiterdichter.
br> Kühner, Otto Heinrich (1921 - 1996)













GEH ICH ZEITIG in die Leere
komm ich aus der Leere voll.
Wenn ich mit dem Nichts verkehre
weiß ich wieder, was ich soll.

Brecht, Bert (1898 - 1956)
























KLARER TAG

Der Himmel leuchtet aus dem Meer;
ich geh und leuchte still wie er.

Und viele Menschen gehn wie ich,
sie leuchten alle still für sich.

Zuweilen scheint nur Licht zu gehn
und durch die Stille hinzuwehn.

Ein Lüftchen haucht den Strand entlang:
o wundervoller Müßiggang.


Dehmel, Richard (1863 - 1920)











KRANKGESCHRIEBEN

Man liegt im Bett mit einer Halskompresse,
Erschöpft und blaß ist man heraufgeschwankt.
Man ist des ganzen Hauses Interesse,
Und jemand sorgt, daß man das Fieber messe.
Man fehlt heut im Büro. - Man ist 'erkrankt'.

Man fühlt sich wohl auf weichen, weißen Kissen.
- Von Zeit zu Zeit tut irgendwo was weh -.
Und diese Schmerzen streicheln das Gewissen,
Heut einmal seine Pflicht nicht tun zu müssen.
... Dies sühnt man außerdem mit Fliedertee.

Man sieht die Möbel an und die Gardinen.
- Man kennt sein Zimmer nur vom Abend her -.
Am Tage, wenn es hell und lichtbeschienen,
Da ist man irgendwo, um zu verdienen.
Und abends gibt es keine Sonne mehr.

Durchs Fenster dringen Stimmen von Passanten
Und der Vormittagslärm von Groß-Berlin.
Man wird besucht von Freunden und Bekannten.
Zweimal am Tage kommen die Verwandten
Und dreimal täglich kommt die Medizin...

So gegen elf hört man die Bolle-Glocken,
Zuweilen läutet's an der Eingangstür.
Ein reisender empfiehlt uns Mako-Socken.
Vom Hof her klingt des Scherenschleifers Locken
Und auch der Leiermann ist wieder hier.

Man liegt im Bett. Und draußen 'pulst das Leben'
- Wie es so herrlich in Romanen heißt.
Man hat sich diesem Zwange gern ergeben
Und wird gesund mit leisem Widerstreben,
Als wär man in die Kindheit heimgereist ...

Kaléko, Mascha (1912 - 1974)




LANGSCHLÄFERS MORGENLIED

Der Wecker surrt. Das alberne Geknatter
Reißt mir das schönste Stück des Traums entzwei.
Ein fleißig Radio übt schon sein Geschnatter.
Pitt äußert, daß es Zeit zum Aufstehn sei.

Mir ist vor Frühaufstehern immer bange.
... Das können keine wackern Männer sein:
Ein guter Mensch schläft meistens gern und lange.
- Ich bild mir diesbezüglich etwas ein...

Das mit der goldgeschmückten Morgenstunde
Hat sicher nur das Lesebuch erdacht.
Ich ruhe sanft. - Aus einem kühlen Grunde:
Ich hab mir niemals was aus Gold gemacht.

Der Wecker surrt. Pitt malt in düstern Sätzen
Der Faulheit Wirkung auf den Lebenslauf.
Durchs Fenster hört man schon die Autos hetzen.
- Ein warmes Bett ist nicht zu unterschätzen.
... Und dennoch steht man alle Morgen auf.

Kaléko, Mascha (1912 - 1974)




LIEGEN ALS LEBENSLAGE

Pummerer, der müßig auf dem Sofa ruht,
Sagt auf den Vorwurf, weshalb er nichts tut,
Daß er vor der Geburt, beim Wettlauf zum Ei,
Erwiesenermaßen schnellster gewesen sei,
Im Rennen gegen Millionen von Konkurrenten,
Etwa künftigen Läufern oder Sportstudenten.
Jetzt ruhe er sich, verspätet, (im Schweiße
Der anderen) davon aus, verdienterweise,
Das heißt, er lasse jetzt, beim Verschnaufen,
Die andern Laufen.
Überhaupt sei, was das Wort deutlich besage,
Liegen die wahre Lebenslage.

Kühner, Otto Heinrich (1921 - 1996)









POLIZIST IM FRÜHLING

Morgens
trat mir die Sonne
entgegen. Ich bin schon
mit ganz andern Leuten
fertig geworden. Mein Gummiknüppel
wuchs mir aus der Hand,
ich hatte
zu tun, hatte
Arbeit
nach langer Zeit -
leider nicht viel, aber der Mensch
freut sich.

Fuchs, Günter Bruno (1928 - 1977)












SONNTAGMORGEN

Die Straßen gähnen müde und verschlafen.
Wie ein Museum stumm ruht die Fabrik.
Ein Schupo träumt von einem Paragraphen,
Und irgendwo macht irgendwer Musik.

Die Stadtbahn fährt, als tät sie's zum Vergnügen,
Und man fliegt aus, durch Wanderkluft verschönt.
Man tut, als müßte man den Zug noch kriegen.
Heut muß man nicht. - Doch man ist's so gewöhnt.

Die Fenster der Geschäfte sind verriegelt
Und schlafen sich wie Menschenaugen aus. -
Die Sonntagskleider riechen frisch gebügelt.
Ein Duft von Rosenkohl durchzieht das Haus.

Man liest die wohlbeleibte Morgenzeitung
Und was der Ausverkauf ab morgen bringt.
Die Uhr tickt leis. - Es rauscht die Wasserleitung,
Wozu ein Mädchen schrill von Liebe singt.

Auf dem Balkon sitzt man, von Licht umflossen.
Ein Grammophon kräht einen Tango fern ...
Man holt sich seine ersten Sommersprossen
Und fühlt sich wohl. - Das ist der Tag des Herrn!

Kaléko, Mascha (1912 - 1974)




UNGEDICHT

Was du nicht denkst
bleibt ungedacht
Was du nicht tust
bleibt ungetan
Steh auf und handle
denn sonst fängst
du ganz und gar mit
'unge' an:

Sieh deine Haare:
ungekämmt
Sieh deine Nase
ungeputzt
Sieh deine Trägheit:
ungehemmt
Sieh deine Chancen:
ungenutzt
Sieh deine Treppe:
ungefegt
Sieh deine Kinder:
ungewollt
Sieh deine Eier:
ungelegt
Sieh deine Rubel:
ungerollt
Sieh deine Muskeln:
ungestählt
Sieh deine Fäuste:
ungeballt
Sieh deine Ängste:
ungezählt
Sieh deine Zukunft:
ungestalt
Sieh deine Tränen:
ungeweint
Sieh deine Glieder:
ungeschlacht


Sieh deine Worte:
ungereimt
Sieh deine Taten:
unbedacht.

Gernhardt, Robert (1937 - 2006)




ALSO GILT schon die Schlußfolgerung
fürs Leben
Muße genügt nicht
wie Arbeit nicht
wie Pflicht nicht
Sorge nicht
und das bißchen Hoffnung
das ungeklärte Glauben
die armselige Liebe
nicht.
Muße genügt nicht
der Aufbau des aufrechten Ganges
bedarf mehr!
viel mehr!

Pfaff, Konrad (1922-2012)




ACH, DIESES MICKRIGE, spießige
Mußesahnehäubchen
auf'm Leben.

Ach, diese beschissene
privatidyllische
Muße in Ehe oder Beziehungskisten.

Ach, diese verblödet- unpolitisch
asozialpoetische
Muße der Gebildeten.

Ach, diese dreckig-verlotterte
exilierte Muße
derer am Rande.

Ach, diese Muße, die ein Regal
bei REWE hat und Edeka,
die eine Ecke bei Karstadt
und eine Nachtzeit im Fernsehen
und eine Witzecke in der Zeitung hat.

Pfaff, Konrad (1922-2012)




WENN MUSSE NICHT
Befreiung heißt,
Wenn Muße, - meine Muße eben -,
nicht mich befreit:
vom Joch der Zeit,
vom Sklavendienste,
vom Diktat der Ordnung,
vom Befehl: zerstreue dich!,
von Gefängniszellen, harten
Wahngebilden in meinem Hirn,
vom Krampf der Anpreisungen,
Mode, Konsum, "out-in",
man, man nehme, gebe ...

Wenn Muße das nicht bringt, -
und gar so unnütz wie des Spießers
Bildung ist -,
was soll's dann?

Pfaff, Konrad (1922-2012)




AN EINE DIFFAMIERTE DAME

Freundin, mein schuppiges Luder,
wer wollte sich nicht an dir messen,
Erkenntnisträchtige,
bäuchlings einen Biß mit dir tauschen
und Giftbäume plündern,
um zu wissen, wo Gott wohnt!

Du hast die Erde bevölkert, Schöne,
und man hat dich verflucht,
eingefangen als Corpus delicti,
Erfindung der Erbsünder. Lache,
mein schuppiges Luder,
und räche dich an den Lechzenden,
fahre den Heuchlern ans Bein,
schlage ihnen ein Schnippchen, den Kerlen
aus Adams Geschlecht.

Nick, Dagmar (1926)




GENESIS 3, 14

Schlange
Fleisch meines Fleisches,
Anruf des Blutes,
geschwisterlich mir gepaart:
wir tragen die Frucht aus,
das Scheusal Liebe,
die Angst, Unheil zu gebären.

Mitternachts streifen wir eine Haut ab
und werben für Unzucht,
stahläugig, ewig offenen Lids,
kriechen auf unserem Bauch
ein Leben lang,
lieben und speien Verachtung
über die Zahnlosen,
die Einzüngigen.

Laß uns den Sabbath feiern,
Schlange,
einen Menschen begraben,
Erde fressen,
die Erde verteidigen,
ehe wir werden wie sie.

Nick, Dagmar (1926)




SPIELE

Scheinparadiese,
Schlupfwinkel mänadischer Orgien,
da büßen wir nicht,
da holzen wir ab,
was wir liebten,
schnüren uns Giftzähne um den Hals
und rauben das Kleid
der Lilith;
schlangenhäutig
tanzen wir,
tanzen uns ein
in die Rhythmen der Wollust,
während der Liebe Leichnam,
das Ungeheuer,
in uns verrottet,
Aas,
Aas seit gestern,
seit dem Beginn aller Zeit.

Nick, Dagmar (1926)




HYBRIS
Wir sind nicht mehr die gleichen.
Uns ätzte das Leben leer.
Es gibt keine mystischen Zeichen,
es gibt kein Geheimnis mehr.

Wir treiben durch luftlose Räume,
erloschenen Angesichts.
Die Nächte verweigern uns Träume,
die Sterne sagen uns nichts.

Wir haben den Himmel zertrümmert.
Das Weltall umklammert uns kalt.
Der Tod läßt uns unbekümmert.
Wir haben Gewalt.

Nick, Dagmar (1926)




UNTERWEGS II

Nimm ein neues Boot. Der Himmel schwankt.
Jedes Bleiben ist schon ein Zuviel.
Immer wieder bist du angelangt,
aber nie am Ziel.

Laß dein Herz los, denn es ist zu schwer.
Neue Inseln werden dir bewußt.
Und das Abschiednehmen zählt nicht mehr,
nach so viel Verlust.

Eine kleine Welle, weißumrankt,
löscht die fremden Horizonte aus.
Immer wieder bist du angelangt,
aber nie zuhaus.

Nick, Dagmar (1926)




AUFBRUCH

Tritt in die Spuren des Mondes und näh dir ein Kleid
aus Sternstaub und Kranichgefieder,
fühle den Aufwind der Ewigkeit
und das Niemehrwieder.

Hast du nicht lange schon alles geopfert? Und wem
bist du noch auserkoren?
Finde ein anderes Sonnensystem.
Diese Welt ist verloren.

Laß deine Zukunft zurück und den Schlüssel vom Haus
und die Lichter im Fensterrahmen,
schütte die Spreu deiner Träume aus
und vergiß deinen Namen.

Nick, Dagmar (1926)




ABER VERLEUGNE DEIN HERZ

Aber verleugne dein Herz,
denn es wird dich verraten.
Pflüge Enttäuschung und Schmerz
unter die Drachensaaten.

Fliehe! Die Zeit flieht mit dir.
Und du kehrst nicht mehr wieder.
Laß die Vergangenheit hier,
brenne sie nieder.

Stürze, zerstöre dein Zelt
und sprenge die Brücken,
denn die Erinnerung fällt
dir noch in den Rücken.

Fliehe, als hättest du nie
mehr als die Liebe besessen,
aber die Liebe, auch sie,
sollst du vergessen.

Nick, Dagmar (1926)




ZEITLOSE STUNDE

Bis diese Stunde, der wir bestimmt sind,
uns aufnimmt,
bis diese zeitlose Stunde
uns hundertfältig
vernichtet und heilt
und wieder erschöpft,
bis wir uns ansinken,
Schulter und Herz
über dem Bodenlosen,
bis uns der Strom
hinüberträgt, endlich -
wieviel Raum
zwischen gestern und morgen,
wieviel Vergeblichkeit,
wieviel Vergeben!

Nick, Dagmar (1926)




anleitung zum totalen frieden
wer
will
sagen
gehn

den
mußt
stumm
machen

wer
will
hören
gehn

den
mußt
taub
machen

wer
will
sehen
gehn

den
mußt
blind
machen

wer
will
laufen
gehn



den
mußt
lahm
machen

wer
will
fliegen
gehn

den
mußt
schwer
machen

jandl, ernst (1925 - 2000)









trost in wolken

in blauen
himmeln
wolken
so weiß
mit grauen
seiten

o trost:
nicht alles
ist rein!

o wolken
mit grauen
seiten!

jandl, ernst (1925 - 2000)





MEINE DAMEN UND HERREN!
Im Namen, willkommen heißen, Ausdruck verleih'n,
Echtes Bedürfnis, bedanken und Meilenstein;
Prioritäten setzen, sich aufdrängende Fragen,
Denkanstöße, wesentlich dazu beigetragen;
Suche nach der Identität, ins Auge fassen,
Stellung beziehen und Pläne reifen lassen;
Optimale Lösung, Position und Transparenz,
Plattform, Entschiedenheit und Konsequenz,
Fragenkomplex, Problematik und Kriterium,
Zu erkennen geben, Anliegen und Wissen um;
Unverzichtbar, weitgehend und beispielhaft,
Wichtige Impulse, Initiative, Errungenschaft,
Spielraum, dringende Bitte, der Sache dienen,
Gegenwärtige Situation. Ich danke Ihnen.

Kühner, Otto Heinrich (1921 - 1996)







KLEINE SONNTAGSPREDIGT
Jeden Sonntag hat man Kummer
und beträchtlichen Verdruß,
weil man an die Montagsnummer
seiner Zeitung denken muß.

Denn am Sonntag sind bestimmt
zwanzig Morde losgewesen!
Wer sich Zeit zum Lesen nimmt,
muß das montags alles lesen.

Eifersucht und Niedertracht
schweigen fast die ganze Woche.
Aber Sonntag früh bis nacht
machen sie direkt Epoche.

Sonst hat niemand Zeit dazu,
sich mit sowas zu befassen.
Aber sonntags hat man Ruh,
und man kann sich gehen lassen.

Endlich hat man einmal Zeit,
geht spazieren, steht herum,
sucht mit seiner Gattin Streit
und bringt sie und alle um.

Gibt es wirklich nichts Gescheitres,
als sich, gleich gemeinen Mördern,
mit den Seinen ohne weitres
in das Garnichts zu befördern?

Ach, die meisten Menschen sind
nicht geeignet, nichts zu machen!
Langeweile macht sie blind.
Dann passieren solche Sachen.

Leben sie im Paradiese,
ohne Pflicht und Ziel und Not,
wär die erste Folge diese:
Alle schlügen alle tot.

Kästner, Erich (1899 - 1974)




GEFÜHLE IM DEUTSCHEN

Die Pflicht sollte bitten, nicht mehr 'rufen',
Zu Ämtern, Fahnen und solchen Behufen!
Und nicht 'Vater' mehr, höchstens Bruder Staat,
Keine Erlasse mehr, höchstens ein guter Rat!
Keine Kommandos: 'Frisch!Fromm!Fröhlich!Frei!'
Oder eheliche 'Pflichten', sondern Liebhaberei!
Und: Spaß kann, Spaß 'muß' nicht sein!
Lachen zu einem 'Muß' zu machen!,
Da muß man ja lachen!

Kühner, Otto Heinrich (1921 - 1996)











GENERATIONSÜBERGREIFENDE TÄTIGKEITEN

SCHAFFEN
RAFFEN
BLUFFEN
GAFFEN
PAFFEN
ABSCHLAFFEN

Sophie Warning (1957)













Über Robert Walser

Da man ihn nicht spielen läßt, muß er arbeiten. Das heißt in Stellungen gehen, sich höheren Orts anbieten, Brotberufe ergreifen. Anfangs hilft ihm der Vater dabei, dann hilft er sich selbst.
Meist sind das niedrige Schreibstubenstellen, die er besetzt. Nicht weil er sie seiner für würdig erachtet; weil ihm nichts besseres einfällt. In verschiedenen Städten, in den verschiedensten öffentlichen und privaten Anstalten, im Industrie- und im Bankwesen; Commis-, Gehülfen- und Bürolistenstellen. Stellen, an denen man einen jungen Mann seines Schlags, und das heißt seiner Phantasie, gar nicht vermutet. Bis hin zu jener eigenartigsten von allen, beim Ingenieur und Erfinder Dubler, in dessen Niedergang bis zur Zahlungsunfähigkeit er sich wie in sein eigenes Schicksal hineinschickt. Sein zweiter Roman wird später davon erzählen. Hat er denn keine höheren Ambitionen als seinen möglichst baldigen Untergang?
Doch. Denn an all diesen Stellen ist ja seine wahre Arbeit auch nicht die Arbeit, für die er bezahlt wird, sondern, unumwunden, das Träumen. Das Träumen und Sinnen und Spinnen. Das Dichten. Er entwirft ja, während er Rechnungen ins reine schreibt oder langweilige, langfädige Korrespondenzen, die ihn einen alten Hut interessieren, oder eine die Welt um kein Komma verständlicher machende Statistik, in Wahrheit Gedichte. In seinem Kopf, der, in die linke Hand gestützt, als schwerer Schatten über all diesen Wirklichkeiten liegt, in die die rechte versucht, eine gewisse, minimale Ordnung zu bringen, und um den an warmen, trägen Sommernachmittagen bei geöffneten Fenstern Fliegen kreisen, kreisen wie eine schöne, traurige Musik ganze Sonnen- und Mondsysteme von eigenen kleinen Welten. Manchmal schüttelt er sie, indem er den Kopf plötzlich, in einem Anflug von Mutwillen, aufwirft, auf ein leeres Blatt Papier, das er unter seinen Papieren für alle Fälle bereithält. Da ihn das Leben verneint, verneint er das Leben und schreibt. Aber das tut er heimlich. Das sieht keiner. Und man sieht es ihm auch nicht an.
(...) Gelegentlich wird er entlassen. Meist geht er vorher, weil er sich von seinen Aufgaben entschieden und unerträglich unterfordert sieht. Weil es ihm als unanständige Zumutung vorkommt, mit seinen Talenten, die er doch hat, um mit ihnen zu wuchern und um sie wuchern zu lassen, so wenig wuchern zu dürfen. Aus Überzeugung übt er seine verschiedenen Berufe ja ohnehin nicht aus. Unter dem Aspekt der Ewigkeit ist ihm der eine so lang und breit, wie der andere. Sein wahrer Beruf, den er gerade im Begriff ist zu entdecken, duldet, das weiß
er, im Grunde neben sich keine anderen Götzen. In den Abgangszeugnissen, die sie ihm sehr bald nach seinem Eintritt bereitwillig ausstellen, wünschen ihm seine Prinzipalen, die es gut mit ihm meinen, für das Fortkommen Glück. Machen Sie, daß Sie fortkommen, oder: Machen Sie, daß Sie weiterkommen, ist das mindeste, das sie ihm zu seiner Verabschiedung sagen.
So geht es weiter, so geht es fort, von einer Stelle zur andern. Fünf Monate ist er Hilfskraft bei einem Bank- und Speditionshaus in B. Bei zwei Verlagshäusern in S. hat er während einiger Zeit mit den Inseraten zu tun. In Z. ist er nacheinander bei zwei miteinander in Konkurrenz stehenden Maschinenfabriken als Kontorist angestellt. Als Hausbursche putzt er einer jüdischen Dame eine Zeitlang die Schuhe, klopft ihr die Teppiche, aus denen gar nichts herauszuklopfen ist, aus, reicht ihr das Essen dar. Einem Rechtsanwalt bringt er vorübergehend ordentlich Unordnung in verschiedene Akten. Einer Buchhandlung nötigt er sich kurzfristig als Bücherliebhaber, der aus seiner Bücherliebhaberei seine Lebensgrundlage machen will, auf. In einer Nähmaschinenfabrik darauf weiß er selber nicht recht, was er tut. Eine kantonale und eine bundesweite Kreditanstalt am Platz diskreditiert er in rascher Folge durch sein ganzes kreditunwürdiges Wesen. Eine Versicherungsgesellschaft verunsichert er, indem er sie als schnellebiger Buchhalter seiner vorzüglichen und nicht enden wollenden Hochachtung versichert. In der Aktienbrauerei von T. brauen sich in seinem Kopf allerlei ganz brauereifremde Gedanken zusammen. In S., wo er bei der Hilfskasse als Hilfsbuchhalter arbeitet, wird ihm weitergeholfen. In der Elastique-Fabrik von W. wird er nach erstaunlich kurzer Eingewöhnungszeit von seinem Nachfolger zum Vorgänger befördert. Oft faßt er schon beim Eintritt in eine Stellung den Austritt aus derselben lebhaft ins Auge. Manchmal sitzt er auch zwischen Stühlen und Bänken. Das heißt er hat zum Arbeiten gar keine Zeit, weil er damit beschäftigt ist, Arbeit zu suchen. Oder er drückt wieder einmal die Bank in der Schreibstube für Stellenlose. Das ist natürlich auch keine Lebensstellung. Oder er kämpft verzweifelt gegen die Versuchung an, als Hund zu einer Herrschaft zu gehen. Bevor er sich endgültig dazu
entschließt, sein Auskommen als Hilfsprosaist und Gedichtstückwerk-verfasser zu suchen.
Bei all dem ist ihm die Vorübergänglichkeit der Stellen der einzige Trost. Nur die Bewegung hält sein Gestirn am Himmel. Wäre sie langsamer, würde er abstürzen. Nicht in Gruben hinein, die ihm auf der Erde gegraben sind, in den Abgrund, den er selber mit sich herumträgt. So hilft ihm die Fliehkraft gerade noch, sich an den Rändern zu halten. (...)

Amann, Jürg (1947-2013)
aus: "Robert Walser - Auf der Suche nach dem verlorenen Sohn"



NEIN, ICH HABE NICHT die leiseste Sehnsucht nach dem
Leben, das ich hinter mir ließ.
Nur Angst vor der Leere, die vor mir liegt.
Wenn ich die Kraft hätte, mich zu Tode zu arbeiten,
Wie froh würde ich dem Tod entgegensehen! Aber warten, nur warten,
Ohne Lust, noch etwas zu tun, doch voll Abscheu vor Untätigkeit,
Angst vor dem leeren Raum, und kein Bedürfnis, ihn auszufüllen.
Das ist ganz so, als säße man im leeren Warteraum
Einer Bahnstation an einer Nebenstrecke
Nach dem letzten Zug, nach dem alle anderen Fahrgäste
Fort sind, und die Fahrkartenschalter geschlossen sind,
Und die Träger weggegangen. Worauf warte ich noch
In einem kalten, leeren Raum vor dem kalten Kamin?
Auf niemand. Auf nichts.

Eliot, T. S. (1888 - 1965)






24 Stunden

Plötzlich läutet die Weckuhr. Das Traumspiel fällt in die
Versenkung. Auf der Drehbühne beginnt die tägliche Runde
der Routine.

Der Kaffee duftet nach Afrika, die Zeitung nach Sensatio-
nen. Im Eiltempo gewinnst du die Schlacht um die Subway.

In der Achtstundenmühle mahlst du das Mehl des täglichen
Brots: Litanei getippter Geschäfte und Kalkulationen. Pau-
senlos raunen die Sekunden im Blutgewebe.

Plötzlich steht die tote Großmutter hinter der Schreibma-
schine und gibt Signale mit einem schwarzgelben Fähnchen.
Der Weichensteller verschiebt das Geleise, du bist auf der
Reise mit alten Schulkameraden. Die rotäugige Lokomotive
braust durch das Salzkammergut, über Tirol und den Groß-
glockner und hält vor dem Schloß in Schönbrunn, wo Franz Jo-
seph leutselig lächelnd dich erwartet.

Mit einmal bist du wieder im Bürosessel, von der Stimme des
Chefs gezähmt, voller Eifer die galoppierenden Minuten ein-
zuholen. Das Papier vibriert, Zahlen und Buchstaben verfol-
gen einander.

Der Feierabend berührt die Finger, das symmetrische Ge-
sicht der Uhr lächelt, der Zeiger zeigt Verständnis. Deine
Muskeln entspannen sich. Der Spiegel zerschneidet die Kreise
der Köpfe, verstrickt die Frisuren. Zwei Striche: die Lippen
blühn auf.

Wieder bist du eingekeilt in einer Subwayschachtel zwischen
Stoffen und duftenden Schuhen. Man schlummert stehend,
man liest schlafend die Zeitung. Von den Katastrophen bedroht,
vom Kehrreim der Räder beruhigt, fliegst du in den Abend.




In der Halle schlägt der gemalte Clown einen Salto über die
Stadt, seine rotgeweinte Nase glüht im Kalkgesicht.

Die verglasten Augen des Karpfenkopfs in der Küche
schaun dich hypnotisch an, das Huhn kreist triefend auf dem
Spieß, Kartoffeln rollen in die Bratpfanne.

Das Radio im Wohnzimmer singt: "Rheingold is my beer,
"is your beer", "Smoke cool, smoke cool, smoke cool".

Kommen Gäste - du lächelst zermürbt. Die freundlichen
Leute erwarten einen Einfall, aber dein Gehirn weigert sich zu
zaubern, die Eingebung gibt nichts.

Mitternacht - das Bett ist eine Erleuchtung. Die aufer-
standene Mutter rückt das Laken zurecht, bettet die Pölster
hoch. Die Uhr gähnt, das Fenster gähnt, die Lampe ist ein gäh-
nend erhellter Mund. Du fällst in die Federn, sinkst in den In-
digoschnee.

Über ein Mohnfeld eilst du zum Bahnhof, um den Zug nicht
zu versäumen. Männer in Ku-Klux-Klan-Kutten, bewaffnet
mit Hakenkreuzen und Revolvern umzingeln dich, der Raum
raucht Gefahr.

Du willst fliehn mit angewurzelten Füßen, deine Lippen sind
zusammengenäht, dein Hilferuf trocknet den Hals. Eine Not-
glocke hängt in der Luft, du ziehst den Hebel und

plötzlich läutet die Weckuhr.

Ausländer, Rose (1901 - 1988)




LIED DER ARBEIT

Ungezählte Hände sind bereit
Stützen, heben, tragen unsre Zeit.
Jeder Arm, der seinen Amboß schlägt,
ist ein Atlas, der die Erde trägt.

Was da surrt und schnurrt und klirrt und stampft,
aus den Essen glühend loht und dampft,
Räderrassseln und Maschinenklang
Ist der Arbeit mächtiger Gesang.

Tausend Räder müssen sausend gehen,
tausend Spindeln sich im Kreise drehn,
Hämmer dröhnend fallen, Schlag um Schlag,
daß die Welt nur erst bestehen mag.

Tausend Schläfen müssen fiebernd glühn,
aber tausend Hirne Funken sprühn,
daß die ew´ge Flamme sich erhellt,
Licht und Wärme spendend aller Welt.

Bröger, Karl (1886 - 1944)








Der Radwechsel

Ich sitze am Straßenhang
Der Fahrer wechselt das Rad
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?

Brecht, Bert (1898 - 1956)




Der Poet

Mein Leben lang war ich bequem und unbekümmert,
verabscheute Gewichtigkeit, tat nur was leicht und einfach.

Zwischen den tausend Wolken, abertausend Wassern,
da lebt in Seelenruhe ein Poet.
Tagsüber wandert er durch blaue Berge,
abends zurückgekehrt, ruht er am Fuß der Klippe.

Bin ich nicht um der Berge Wonnen zu beneiden,
in Muße wandernd und von niemand abhängig?
Der Sonne nachjagend, macht man sich nur kaputt,
ruhen erst die Gedanken, dann bleibt nichts zu tun.

Seit ich mich einst in die Berge zurückzog,
ernähr ich mich von seinen wilden Früchten.
Ein friedliches Leben, was braucht ich mich zu sorgen,
in dieser Welt nimmt alles seinen vorbestimmten Lauf.
Tage und Mode verströmen unaufhaltsam wie der Fluss,
unsere Lebenszeit - Funken von einem Feuerstein!
Die Welt zu ändern überlass ich euch-
ich sitze stillvergnügt zwischen den Klippen.

Es gibt so manchen Menschen sparsamer Natur,
doch Knickrigkeit entspricht nicht meiner Art.
Mein dünnes Kleid, vom vielen Tanzen durchgewetzt;
der Weinkrug leer, weil ich beim Singen gerne einen hebe.
Seht zu, dass ihr euch stets den Bauch vollschlagen könnt,
und rennt euch nicht eifrig die Beine ab!
Wenn euch erst mal das Unkraut durch den Schädel sprießt,
dann könntet ihr es bereuen.

Han-shan (7 oder 8. Jhd.)




Mein Tagwerk

Mein Tagwerk: mit den Dorfkindern spielen.
Immer habe ich ein paar Stoffbälle dabei, in meinen Ärmeltaschen.
Zu viel anderem bin ich nicht nütze,
doch ich weiß mich zu erfreuen
am stillen Frieden des Frühlings.

Vermischt mit dem Wind
fällt der Schnee;
Vermischt mit dem Schnee
bläst der Wind.
Am Herd
strecke ich meine Füße aus,
verbummle meine Zeit,
eingeschlossen in dieser Hütte.

Ryokan




Müßiggang oder das aktive Nichtstun

Müßiggang oder das aktive Nichtstun Das hätte ein Grieche zur Zeit des Platon hören müssen, ein Mann im antiken Rom oder ein florentinischer Zeitgenosse der erlesenen Medici: Man hätte ihnen einmal sagen sollen, daß unser Leben durch Arbeit geadelt, versüßt oder sogar geheiligt werde; man hätte ihnen gegenüber behaupten sollen, daß der Inbegriff des menschlichen Lebens in der Leistungssteigerung liege - ich fürchte, all die kulturbegabten und kulturstolzen Leute von einst hätte es geschaudert. Sie wären in Versuchung gekommen, diese Ansicht für eine krankhafte Besessenheit zu halten, eine Form undiskutabler Verrücktheit. Generationen aufgeklärter und produktiver Müßiggänger hätten durch nichts tiefer erschreckt werden können als durch die heute sprichwörtliche Behauptung, nach der Arbeit unser Leben versüßt. Denn sie maßen das Niveau einer Kultur unter anderem auch daran, wie hoch die Muße, das aktive Nichtstun, eingeschätzt wurde. Galt es einst als Zeichen von Urbanität, von Lebensmeisterschaft, wenn man seine Muße hervorkehren und sie gleichsam als Gewinn "ausstellen" konnte, so gilt es heute als zeitgemäß, wenn man sich auf seine Arbeitslast beruft, seine Arbeitswut hervorkehrt. Niemand wird übersehen, wie genüßlich überbeanspruchte Leute von ihrer Erschöpfung reden. Die Leute haben nicht mehr ihre Arbeit, sondern die Arbeit hat sie, und je härter und heftiger man schuftet, desto größer sind oftmals die Genugtuungen. In gewissen Kreisen wird denn auch über den Herzinfarkt gesprochen, als handle es sich um einen Ritterschlag, um die Aufnahmegebühr in einen Orden der Rastlosen, der entschlossen ist, sich der Arbeit zu opfern. Wir haben wirklich keinen Grund, über Stachanow zu lächeln; Stachanow ist bereits in uns, er ist eine Schlüsselfigur dieser Epoche, sein Name läßt sich auch amerikanisieren. Weil die Arbeitswut eine weitgehend internationale Erscheinung ist und ohne Rücksicht auf politische Systeme besteht, darum ist eine Verteidigung des Müßiggangs heutzutage bereits ein müßiges Unternehmen: Es ist verschwendet, es muß wirkungslos bleiben - eine Feststellung übrigens, die nur von einem Mann getroffen werden kann, der seinerseits von der Arbeit besessen ist. Denn natürlich wird ein leidenschaftlicher Müßiggänger nicht nach Wirkung und Zweck fragen, nach kalkuliertem Nutzen, vielmehr wird er sich gerade für das erklären, was ihm verschwendet erscheint, er wird das Müßige als das einzig Schätzenswerte ansehen. Und das bezeichnet nun auch die Qualität seines "Tuns". Es ist nicht blinde Geschäftigkeit, die nur die Zeit füllt oder an einem Zweck gemessen wird, sondern schöpferische Nichtarbeit, produktives Träumen, eben: Müßiggang. Das hat keineswegs etwas mit Faulheit zu tun. Faulheit im einfachsten Sinne ist zunächst nichts anderes als die tatenlose, ermattete Freiheit von der Arbeit: Man lebt ohne Kraft zur Entscheidung wie Oblomow, bis man von sanftem Schlagfluß heimgesucht wird. Dem Müßiggang hingegen liegt eine definitive Entscheidung zugrunde: Man ist bereit, das Nichtstun auszukosten, auszubeuten, auf absichtslose Weise aktiv zu sein. Somit ist Müßiggang alles andere als eine Ermattung des Geistes. Der verständige Müßiggänger lehnt es ab, sich mit Betriebsamkeit zu betäuben, da er es durchaus bei sich selbst aushält. Pascals Bemerkung, daß "alle Leiden des Menschen daher kommen, daß er nicht ruhig in seinem Zimmer sitzen kann", trifft auf ihn nicht zu. Er kann lange ruhig sitzen, und er kann staunen. Und vielleicht ist dies das überzeugende Geschenk des Müßiggangs: die Gelegenheit zum Staunen, die uns gewährt wird. Wer aber staunt, wer sich selbst aus bescheidenem Anlaß wundert, der beginnt unweigerlich zu fragen, und wer Fragen stellt, wird zu Schlußfolgerungen gelangen: Der Müßiggang wird zu einem aufregenden Zustand. Wenn Oblomow seufzt: "Man schläft, man schläft, und hat nicht mal Zeit, sich zu erholen", dann ist damit doch gesagt, daß der wahre Müßiggang nicht in den Daunen betätigt werden kann. Der Kenner wird immer darauf aus sein, sozusagen in der Welt müßig zu gehen: An Flüssen und in Kneipen, auf Behörden und belebten Straßen, überall dort, wo anscheinend etwas geschieht. Ausgerüstet mit besonderen Möglichkeiten der Wahrnehmung, wird der Müßiggänger das, was geschieht, in seiner Art befragen und durchschauen, vor allen Dingen aber dem geschäftigen Leerlauf ein Beispiel geben: Ein Beispiel nämlich für den Rückfall in die Weile. Der Überfluß an Zeit, an Weile, ist der sichtbarste Reichtum des Müßiggängers, und indem er ihn zeigt, macht er auch schon unser Verlangen nach Kurzweil fragwürdig. Aber dieser ganz bestimmte Überfluß ist es auch, der eine wesentliche Rolle bei der Entstehung von Kultur gespielt hat. Der zerstreuungssüchtige Konsument, der Abnehmer von Kurzweil, wird bei allem verbissenen Fleiß nie in der Lage sein, Kultur hervorzubringen, da ihm das sublime Nichtstun unbekannt ist. Kultur entsteht immer nur im produktiven Müßiggang, in großen Augenblicken schöpferischer Faulheit. Das ist eine landläufige Ansicht, und wenn wir sie gleichwohl in Erinnerung bringen, so nur deshalb, weil es müßig ist, auf die Vorzüge des Müßiggangs hinzuweisen.

Lenz, Siegfried (1926 - 2014)




Von dem, was einer ist

...Ein innerlich Reicher bedarf von außen nichts weiter als eines negativen Geschenks, nämlich freier Muße, um seine geistigen Fähigkeiten auszubilden und entwickeln und seinen inneren Reichtum genießen zu können, also eigentlich nur die Erlaubnis, sein ganzes Leben hindurch, jeden Tag und jede Stunde, ganz er selbst sein zu dürfen.


Schopenhauer, Arthur (1788 - 1860)



Gebet

O liebster Tod, du mein glücklichstes Los. In dir möge ein Nest für sich finden meine Seele, o Tod. O Tod,
gebärend des ewigen Lebens Früchte: einhüllen mögen mich ganz und gar deine lebensvollen Fluten. O Tod,
fortwährendes Leben: hoffen möge ich immer unter deinen Fittichen...
O Tod von höchster Wirkkraft: unter deiner Fürsorge möge mein Tod behütet sein und frei von Sorge.
O Tod, voller Leben: möge ich hinschmelzen unter deinen Flügeln. O Tod, aus dem Leben tropft,
in mir möge für immerdar glühen dein lebendig machender überaus süßer Funke.

O Tod, strömend von Süßigkeit, sieh du auf meinen Tod fürsorglich hin und umgib du mich ganz in des
Todes Angst und Not. Durch dich möge mir sicher und ohne Sorge sein der Übergang; damit die Wegelagerer
nicht belauern meinen Lebensausgang.

In den Schoß dessen, in den du als dein Liebstes, Teuerstes erworben, bringe ein als deine Ernte meinen
Lebensgeist und Atem. In das Schlafgemach deiner vollsten innigen Liebe nimm meine Seele auf, in dich sauge
mein Leben hinweg, in dich senke ganz mich ein...

Sieh, o Weisheit, nun ist die Schatzkammer deiner Liebe geöffnet. Wirf einen Blick auf mich, die draußen an der
Tür deiner Minne steht. Fülle meinen Mantel mit deinen reichen Segnungen.

Sieh, vor dir steht die leere Schale meiner Sehnsucht.


Helfta, Gertrud von (1256-1302)
christliche Mystikerin, 1256 - 1301/02
aus: Exerzitienbuch der Gertrud von Halfta


Mein schönstes Gedicht

Mein schönstes Gedicht
ich schrieb es nicht.
Aus tiefsten Tiefen stieg es,
ich schwieg es.

Kaléko, Mascha (1912 - 1974)



Gott lebt nicht ohne mich

Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben,
Werd ich zu nicht, er muß von Not den Geist aufgeben.

Angelus Silesius (1624-1668)
christlicher Mystiker, 1624 - 1668 aus: Der cherubinische Wandersmann, Erstes Buch


Der Mensch ist Ewigkeit
Ich selbst bin Ewigkeit, wann ich die Zeit verlasse
Und mich in Gott und Gott in mich zusammenfasse.

Angelus Silesius (1624-1668)
christlicher Mystiker, 1624 - 1668 aus: Der cherubinische Wandersmann, Erstes Buch


Die geistliche Maria

Ich muß Maria sein und Gott aus mir gebären,
Soll er mich ewiglich der Seligkeit gewähren.

Angelus Silesius (1624-1668)
christlicher Mystiker, 1624 - 1668 aus: Der cherubinische Wandersmann, Erstes Buch


Liebe

Ich wollte ein Stein werden
In steiniger Behausung
Um die Liebe zu fliehn, -
Aber auch aus dem Stein
Sprangen die Funken der Liebe!

Hafis (1315-1390)



Das Leben
ist der Ort der Erlösung!

Kabir (1440-1519?)



Ich bin weder Hindu noch Muslim!
Ich bin dieser Körper, ein Schauspiel der fünf Elemente, ein Drama der tanzenden Seele mit Freude und Leid.

Kabir (1440-1519?)



Gott ist die Quelle aller Kreationen des Universums
in der selben Weise
wie der Samen, der die Blätter, die Zweige und die Früchte hält.

Kabir (1440-1519?)



Schweige jetzt.
Lass den Schöpfer der Worte sprechen.
Er schuf die Tür.
Er schuf das Schloss.
Er schuf auch den Schlüssel.

Rumi (1207-1273)



Deine Aufgabe ist nicht, die Liebe zu suchen,
nur all die Barrieren in dir selbst zu suchen und zu finden,
die du gegen sie errichtet hast.

Rumi (1207-1273)



In jeder Religion geht es um Liebe
und doch hat die Liebe keine Religion

Rumi (1207-1273)



Die Welt möchte besungen werden
In tiefsten und in höchsten Tönen
Warum sonst wandeln wir auf Erden
Wenn nicht um sie zu erwähnen
Laut und voll
Wild und toll
Sacht und zart
In jeder Art

Nimmt sie unsern Gesang entgegen
Wir fühlen uns dann fast verwegen
Als höben wir uns ein Stück in die Lüfte
Und schauten herab auf die Geschäfte

Die mageren Jahre
Und fetten Jahre
Die bitteren Stunden
Die süßen Stunden

Die einsamen und gemeinsamen Wege
So trostlos und froh wir sie wagen zu gehn
Unser Lied macht das Gehen schön

Sophie Warning (1957)


Spuren

Brandungsflügel überraschen
Stapfen, die du hingewühlt.
Jetzt sind sie vom Meerschaum wie gewaschen.
Einst sind alle Spuren überspült.

Abermals glänzen die Stapfen befeuchtet,
Vom Felsen ist Sturzflut hereingeschlagen.
Die Spur ist erloschen, doch hat sie geleuchtet.
Dein Fuß war wie von Monden getragen.

Loeke, Oskar (1884-1941)



Du, wer immer du seist!
Und ihr, die ihr in künftigen Jahrhunderten mir lauscht!
Und ihr, alle und jeder überall, die ich nicht bezeichne,
doch einbegreife wie alle anderen!

Heil euch! Wohlwollen euch allen, von mir (und Amerika) gesandt!
Ein jeder von uns unvermeidlich!
Ein jeder von uns unermeßlich!
Ein jeder von uns, sei's Mann, sei's Weib, mit seinem Recht auf der Erde!
Ein jeder von uns mit seinem Teil an dem ewigen Zweck der Erde!
Ein jeder von uns hier ebenso göttlich
wie irgendeiner!

Whitman, Walt (1819 - 1892)aus: Grashalme


Hafis verlegt das Paradies

"O Hafis, wag es niemals, an die Pforte
Des Paradieses anzuklopfen. Niemals
Läßt man dich ein. Du sündigtest zu viel.

Du bist nicht würdig, in die hehren Räume
Der letzten Wonne einzutreten. Ewig,
Mit sieben Riegeln, bleibt das Tor dir zu."

Mir recht! Ich werde meine liebe Laute
Vor der geschloßnen Tür erklingen lassen,
So lock ich alle Huris mir hervor! (Huris: Jungfrauen im Paradies)

Sie werden meinem Liede lachend folgen,
Ich werde sie zur Erde niederleiten,
Wo Wein winkt und das Lied der Nachtigall.

Und keine bleibt zurück, sie kommen alle,
Beseligt und berauscht, und so verleg ich
Den Garten Eden auf die liebe Erde.

Leer und verödet wird der alte Himmel
Herniederschaun, und Langeweile wird ihn
Erfüllen, - doch bei uns ist Seligkeit!

Hafis (1315-1390)


Tanz, Lalla, mit nichts auf dem Leib

als Luft. Sing, Lalla,
trag nur den Himmel.

Schau diesen glänzenden Tag an! Welche Kleider
könnten so wunderschön sein oder
heiliger?

Lalla (1320 - 1392) indische Mystikerin


Lass sie ihre Flüche schleudern.
Wenn ich innerlich verbunden bin
mit der Wahrheit,
bleibt meine Seele klar und ruhig.

Denkst du, Shiva (Gott) macht sich etwas aus dem,
was die Leute sagen!

Wenn etwas Asche auf einen Spiegel fällt,
nutze sie, um ihn zu polieren.

Lalla (1320 - 1392) indische Mystikerin


Lalla, Geburt und Tod gibt es nicht.
Du bist eins, aber nicht mit Glück
oder Schwierigkeit, nicht mit
Begehren oder Zorn.

Du gehst nicht gemeinsam mit denen,
die nur über Wahrheit reden.

Die Erfahrung Gottes
ist fortwährendes Staunen.

Lalla (1320 - 1392) indische Mystikerin


Tanz

Ich wollte auferstehen,
also übte ich mich im Tanz,
wobei es mir manchmal gelang,
auf dem Kopf zu stehen,
jedenfalls immer leichter zu werden,
was zur Folge hatte,
dass auch die Dinge leichter zu werden
und zu tanzen begannen.

Ich habe solche Zeiten,
Tanzzeiten
schon früher gehabt,
was ganz wörtlich zu verstehen ist,
Tanzbewegungen nach Radiomusik
Vor dem Schlafengehen,
auch oder gerade
in den bedrohlichsten Lagen,
aber auch unwörtlich
als einen Zustand des Gleitens und Schwebens,
auch des inneren Lächelns,

das weit entfernt
von einer verbissenen Gottsuche
mich doch am nächsten

zu dem hingeführt hat, was den Gläubigen
als Gegenwart Gottes erscheint.

Kaschnitz, Marie Luise (1901-1974)



Taufe

Lauf mit der Schönheit des Lebens
um die Wette,
und mit den rasenden Herzen
im Galopp!
Spring! Spring!
Flieg der Sonne entgegen
und über sie hinaus.
Tropfen sprenkeln die hitzige Stirn.
Segensquell.
Gern gegeben.
Perlen der Freude.

Sophie Warning (1957)



Mit leeren Händen kam ich in diese Welt.
Barfuß verlasse ich sie.
Mein Kommen, mein Gehen -
Zwei einfache Ereignisse,
Ineinander verwoben.

Kozan Ichiko (1283-1360) Japanischer Zen-Meister, Sterbegedicht


Der Gehülfe

Es war ja noch Zeit und auf ein paar Minuten konnte es nicht ankommen. Zwar war Tobler in diesem Punkt
anderer Meinung, wie Joseph bereits tüchtig erfahren hatte, aber Tobler selber, der montagete heute. Unter
montagen verstund man das länger als sonst ausgestreckt im Bett Liegen-Bleiben, das sich ein bißchen mehr als
alle andern Wochentage Wohlseinlassen und Gehenlassen, und gerade Tobler, der war ja der Richtige in diesen
Montagdingen, der würde sowieso erst um halb elf Uhr unten im Bereiche der technischen Lösungen und Probleme
erscheinen.
Die Haare schienen heute früh außerordentlich schwer zu bürsten und zu kämmen zu sein. Die Zahnbürste erinnerte
an vergangene Zeiten. Die Seife, womit man die Hände waschen sollte, glitt aus, fuhr unters Bett, und man mußte sich
bücken und sie aus dem hintersten Winkel hervorziehen. Der Kragen war zu hoch und zu eng, obgleich er doch gestern
prächtig gepaßt hatte. Welche wunderbaren Dinge. Und wie langweilig das alles war.
Im Bureau! Erst ein bißchen auf und ab gehen, das gehörte doch schließlich zur Sache, so fing einer immer an, wenn er
zu arbeiten sich vornahm. Gehörte Joseph zu den Menschen, die mit Ausschnaufen ein Geschäft beginnen und erst nach
Beendigung desselben, das heißt, nach halber Beendigung energisch werden, das heißt wiederum nur dazu energisch, um
sich über irgendeinen billigen Genuß herzumachen? Er zündete langsam einen der wohlbekannten Stumpen an, die ihm jeweilen den Gedanken an die beginnende Arbeit so sehr versüßten, und rauchte drauflos wie das Mitglied eines Rauchclubs. Und dann setzte er sich wieder einmal an seinen Schreibtisch und fing an, sich nützlich zu erweisen.

Walser, Robert (1878 - 1956)
aus: Der Gehülfe



Johann der Seifensieder

Johann, der munt're Seifensieder,
Erlernte viele schöne Lieder,
Und sang mit unbesorgtem Sinn
Den Tag bei seiner Arbeit hin.

Zu beißen hatt' er oft sehr wenig;
Doch war er froher als ein König,
Und seiner hellen Stimme Kraft
Durchdrang die ganz Nachbarschaft.
Man horcht, man fragt: "Wer singt schon wieder?
"Wer ist's? - "Der munt're Seifensieder."

Es wohnet neben diesem an
Ein reicher, fauler, feister Mann,
Der prassend oft die halbe Nacht durchwachte
Und dann zur Nacht den lichten Morgen machte.
Doch schloß er kaum die Augen zu,
So stört' ihn schon in seiner Ruh,
Durch seine frohen Morgenlieder,
Johann, der munt're Seifensieder.

D'rob zürnt der reiche, faule Mann,
Und hebt, wenn jener singt, voll Unmut an:
"Der Geier hole deine Lieder,
Vermaledeiter Seifensieder!
Ach! wäre doch, zu meinem Heil,
Der Schlaf hier wie die Austern feil!"

Den Sänger, den er früh vernommen,
Läßt er des Mittags zu sich kommen,
Und spricht: "Mein lustiger Johann,
Wie geht es euch? Wie fangt ihr's an?
Ein jeder rühmt mir eure Ware,
Sagt, wie viel bringt sie ein im Jahre?"

Im Jahre? Herr, mir fällt nicht bei,
Wie groß im Jahr mein Vorteil sei.
Was der, so auf ihn folgt, verzehret.
Das kommt im Jahr, ich weiß die Zahl,
Dreihundertfünfundsechzigmal.

Schon recht; doch könnt' ihr mir nicht sagen,
Was pflegt ein Tag wohl einzutragen?

Mein Herr, ihr forschet allzusehr.
Der eine weniger, der and're mehr,
So wie's dann fällt. Mich zwingt zur Klage
Nichts, als die vielen Feiertage.
Ja, wer die alle rot gefärbt,
Der hatte wohl, wie ihr, geerbt,
Dem war die Arbeit wohl zuwider;
Gewiß, der war kein Seifensieder.

Der reiche Mann, gar sehr erfreut
Ob dieser guten Nachricht, beut
Dem liederreichen Nachbarsmann
Viel schöne blanke Taler an,
Nur daß er künftig nicht mehr singe,
Und um den Morgenschlaf ihn bringe.

Johann verspricht's, läuft hocherfreut
Mit seinen Talern heim, und scheut,
Wie Diebesaugen, aller Blicke,
Und, ganz betäubt von seinem Glücke,
Zählt, streichelt, küßt sogar sein Geld,
Und wähnt sich nun den Glücklichsten auf der Welt.

Um seinen lieben Schatz zu hüten
Und schnöden Dieben Trotz zu bieten,
Verwahrt er ihn bei Tag und Nacht
In einem wohl beschlag'nen Kasten;
Doch so auch kann er noch nicht rasten,
Weil ihm jetzt alles Argwohn macht.
Sobald sich nur der Haushund regt,
Sobald der Kater sich bewegt,
Springt er erschrocken auf und glaubt,
Man hab' ihn wirklich schon beraubt,
Bis' oft gestoßen, oft geschmissen,
Sich endlich beide packen müssen.

Er sieht zuletzt, je mehr er spart,
Daß Sorge sich mit Reichtum paart,
Sieht alle Ruhe, alle Freuden
Sich unbarmherzig von ihm scheiden.
Ihm schmeckt kein Essen, schmeckt kein Trank,
Und Seufzer hört man statt Gesang.

Zuletzt erwacht sein vor'ger Sinn;
Schnell läuft er zu dem Nachbarn hin
Und spricht: "Herr, lehrt mich bess're Sachen,/
Als, statt des Singens, Geld bewachen!
Nehmt eure Taler wieder hin
Und laßt mir meinen frohen Sinn!
Mag, wer da will euch euer Glück beneiden!
Ich tausche nicht mit euren Freuden.
Mir ward statt Gold und Goldesklang
Ein froher Sinn und froher Gesang.
Was ich gewesen, werd' ich wieder:
Johann, der munt're Seifensieder."

Friedrich von Hagedorn




















Der Musenkuss

Ein Jüngling den die Muße küsste,
was ja von Zeit zu Zeit passiert,
der schrieb ein Lied und tat, als wüsste
er, wie man Werke komponiert.

Er hat mit einem Mal erkannt,
dass er ein Künstler werden muss,
und wartet seither angespannt
auf einen zweiten Musenkuss.

Das war vor vielen, vielen Jahren.
Der Jüngling, lange schon ergraut,
hat eines immerhin erfahren:
Dass der, der auf die Muse baut,
nicht allzu viel Papier versaut.

Dobler, Harald (1960 )

Auf unebenen Wegen
lichtung Verlag














Durchschnittlich bürgerlich

Zu fett gegessen,
zu viel gesessen,
privat und beruflich
nach oben gestrebt.

Zu selten gelacht,
zu wenig gedacht,
in jeglicher Hinsicht
danebengelebt.

Dobler, Harald (1960 )

Auf unebenen Wegen
lichtung Verlag

















Herbstlied

Kahl und leer sind längst die Felder,
Krähenschwärme ziehn im Wind.
Sehnsucht lenkt den Blick nach Süden,
wo die Sommer länger sind.

Jetzt bleibt nur noch ein Erinnern
an die Sonne auf der Haut.
Schwalbenflug und Grillenlieder
schienen uns schon so vertraut,

so als wären sie uns sicher
bis ans Ende Tag für Tag,
so vertraut wie alte Freunde,
deren Blick und trösten mag.

Kahl und leer sind längst die Felder,
an den Bäumen zerrt der Wind.
Welkes Laub tanzt auf den Wegen
und die Scheiben werden blind.

Dobler, Harald (1960 )

Auf unebenen Wegen
lichtung Verlag














Kritisch nachgerechnet

Wem Ordnung das halbe Leben bedeutet
und wer ein weiteres Drittel verpennt,
dem bleiben, sofern er nichts mehr vergeudet,
genau noch sechzehn zweidrittel Prozent,

Dobler, Harald (1960 )

Auf unebenen Wegen
lichtung Verlag


























Wenn ich mir gehöre

Morgens, wenn ich mir gehöre,
zwischen Kerze und Kaffee,
wenn ich ganz nach innen höre,
mir nicht selbst im Wege steh,

dann geschieht es für Sekunden,
dass ich wirklich glücklich bin,
eins mit mir und meinen Wunden
schweigt die Frage nach dem Sinn,

nach dem Wert von Recht und Wahrheit,
der Bestimmung dieser Zeit,
und im Angesicht der Klarheit
bin ich ganz und gar bereit.

Manchmal, wenn ich mir gehöre,
wenn ich bin und nichts mehr will,
wenn ich ganz nach innen höre,
wird es manchmal still.

Dobler, Harald (1960 )

Auf unebenen Wegen
lichtung Verlag














Lob des Müßiggangs

Wie die meisten meiner Generation bin ich nach dem Sprichwort "Müßiggang ist aller Laster Anfang" erzogen worden. Da ich ein sehr braves Kind war, glaubte ich alles, was man mir sagte; und so entwickelte sich mein Pflichtgefühl derart, daß ich zeit meines Lebens und bis zum heutigen Tage nicht umhin konnte, immer schwer zu arbeiten. Aber wenn mir auch mein Handeln vom Gewissen vorgeschrieben war, so hat sich doch in meinen Ansichten eine Revolution vollzogen. Ich glaube nämlich, daß in der Welt viel zuviel gearbeitet wird, daß die Überzeugung, Arbeiten sei an sich schon vortrefflich und eine Tugend, ungeheuren Schaden anrichtet, und daß es Not täte, den modernen Industrieländern etwas ganz anderes zu predigen, als man ihnen bisher immer gepredigt hat. Allgemein bekannt ist ja die Geschichte von dem Reisenden, der in Neapel zwölf Bettler in der Sonne liegen sah (vor Mussolinis Zeit natürlich) und der dem Faulsten eine Lira schenken wollte. Elf sprangen auf und streckten die Hand nach dem Geld aus, weshalb er es dem zwölften gab. Dieser Reisende hatte das Wesentliche erfaßt. Aber in Ländern, in denen nicht die Sonne des Südens lacht, ist es schwieriger, müßig sein zu können, und es wird umfassender allgemeiner Propaganda bedürfen, um damit einen Anfang zu machen. Ich hoffe aber, die führenden Persönlichkeiten der Y. M. C. A. (Christlicher Verein junger Männer) werden nach der Lektüre der folgenden Seiten eine Kampagne starten, um die tugendhaften jungen Männer endlich zu lehren, nichts zu tun. In diesem Falle werde ich wenigstens nicht umsonst gelebt haben. Bevor ich meine eigenen Argumente zugunsten der Faulheit vorbringe, muß ich erst eine andere Begründung widerlegen, die ich nicht anerkennen kann. Sooft jemand, der ohnedies genug zum Leben hat, beabsichtigt, irgendeine landläufige Berufstätigkeit aufzunehmen wie Schulunterricht zu geben oder Schreibmaschine zu schreiben, erklärt man, er oder sie würde damit jemand anderem das Brot wegnehmen, was doch sehr häßlich sei. Aber wenn das ein gültiges Argument wäre, dann brauchten wir doch nur alle nichts zu tun, damit wir auch alle Brot die Hülle und Fülle hätten. Die Leute, die so etwas daherreden, vergessen nämlich, daß der Mensch in der Regel auch ausgibt, was er verdient, und durch dieses Ausgeben wieder anderen Beschäftigung gibt. Solange ein Mensch sein Einkommen ausgibt, schafft er damit ebensoviel Brot und Arbeit für andere Leute, wie er anderen Leuten wegnimmt, indem er verdient. So betrachtet, ist nur der Mann, der spart, der echte Bösewicht. Wenn er, wie der sprichwörtliche französische Bauer, seine Ersparnisse bloß in den Strumpf steckt, ist es klar, daß er damit keine Arbeit schafft. Investiert er seine Spargroschen, dann ist die Sache nicht ganz so klar und andere Umstände treten ein. Einer der gebräuchlichsten Verwendungszwecke für Ersparnisse ist, sie einer Regierung zu leihen. Angesichts der Tatsache, daß die öffentlichen Ausgaben der meisten zivilisierten Staaten in der Hauptsache aus Zahlungen für vergangene Kriege oder für die Vorbereitung künftiger Kriege bestehen, ist der Mann, der sein Geld einer Regierung leiht, vergleichbar dem Schurken in Shakespeares Dramen, der Mörder dingt. Aus dieser seiner wirtschaftlichen Gepflogenheit ergibt sich rein netto eine gesteigerte militärische Macht des Staates, dem er seine Ersparnisse leiht. Es wäre daher unverkennbar besser, wenn er sein Geld ausgeben wollte, selbst wenn er es vertrinken oder verspielen würde. Aber, so wird man mir erklären, die Sache liegt doch ganz anders, wenn Ersparnisse in industrielle Unternehmen investiert werden. Wenn solche geschäftlichen Unternehmen glücken und etwas Nützliches produzieren, kann man das zugeben. Aber wer würde wohl leugnen wollen, daß heutzutage die meisten Unternehmen fehlschlagen. Das heißt, ein großer Aufwand an menschlicher Arbeitskraft, die sich für die Produktion erfreulicher Dinge hätte einsetzen lassen, wurde verschwendet, um Maschinen zu bauen, die nach Fertigstellung stillagen und niemandem zugute kamen. Der Mann, der seine Ersparnisse in einen Konzern investiert, der bankrott macht, schädigt daher sowohl andere als sich selbst. Hatte er aber sein Geld für - sagen wir - gesellige Abende mit seinen Freunden ausgegeben, dann hätten sie (hoffentlich) ihre Freude daran gehabt, desgleichen aber auch alle anderen, die daran verdient hätten, wie der Schlächter, der Bäcker und der Alkoholschmuggler. Aber angenommen, er gibt sein Geld dafür aus, in irgendeiner Stadt Straßenbahnschienen legen zu lassen, und es stellt sich heraus, daß diese Stadt gar keine Straßenbahnen braucht, dann hat er eine Menge Arbeit in Kanäle geleitet, an denen niemand Freude hat. Nichtsdestoweniger wird man ihn für das beklagenswerte Opfer eines unverdienten Mißgeschicks halten, wenn er auf Grund dieser falschen Kapitalsanlage verarmt, während der heitere Verschwender, der sein Geld menschenfreundlich ausgegeben hat, verächtlich als Narr und Bruder Leichtfuß bezeichnet wird. Aber das alles waren nur Vorbemerkungen. Ich möchte jedoch jetzt in vollem Ernst erklären, daß in der heutigen Welt sehr viel Unheil entsteht aus dem Glauben an den überragenden Wert der Arbeit an sich, und daß der Weg zu Glück und Wohlfahrt in einer organisierten Arbeitseinschränkung zu sehen ist. Zunächst: was ist eigentlich Arbeit? Es gibt zweierlei Arten: einmal, Verlagern der Materie auf oder nahe der Erdoberfläche in bezug auf andere derartige Materien; zweitens, andere Leute anweisen, es zu tun. Arbeit der ersten Art ist unangenehm und schlecht bezahlt, der zweiten angenehm und hoch bezahlt. Außerdem läßt sich die zweite Art unbegrenzt erweitern: es gibt nicht nur Leute, die befehlen, sondern auch welche, die Ratschläge geben, was zu befehlen sei. Gewöhnlich werden zwei gegensätzliche Arten von Ratschlägen von zwei organisierten Gruppen von Menschen gleichzeitig erteilt; das nennt man Politik. Die Befähigung für diese Art von Arbeit braucht nicht auf Kenntnis der Personen, denen der Rat erteilt wird, zu beruhen, vielmehr nur auf der Beherrschung der Kunst, durch Wort und Schrift zu überzeugen, das heißt, auf Beherrschung der Werbung und Propaganda. In ganz Europa, wenn auch nicht in Amerika, gibt es noch eine dritte Gesellschaftsklasse, die höher geachtet wird als beide arbeitenden Klassen. Es sind Menschen, denen ihr Grundbesitz erlaubt, andere Leute für das Vorrecht, existieren und arbeiten zu dürfen, zahlen zu lassen. Diese Grundbesitzer tun nichts, und man könnte daher vielleicht annehmen, ich würde ihr Loblied singen. Unglücklicherweise wird ihnen dieses Nichtstun aber nur durch den Fleiß anderer ermöglicht; und tatsächlich ist ihr Streben nach angenehmem Müßiggang der historische Ursprung des ganzen Evangeliums der Arbeit. Und daß andere Menschen ihrem Beispiel folgen könnten, wäre das letzte, was sie sich jemals wünschen würden. Von Beginn der Zivilisation an bis zur industriellen Revolution konnte ein Mann in der Regel mit schwerer Arbeit kaum mehr als seinen und seiner Familie Unterhalt verdienen, obwohl seine Frau mindestens ebenso schwer arbeitete und die Arbeit der Kinder auch noch hinzukam, sobald sie nur irgend arbeitsfähig waren. Das Wenige, was den Bedarf für die nackte Notdurft überstieg, verblieb aber nicht dem, der es erarbeitet hatte, sondern die Soldaten und Priester eigneten es sich an. In Zeiten der Hungersnot gab es keinen Überschuß; die Soldaten und Priester verschafften sich aber genau soviel wie sonst, mit dem Ergebnis, daß viele der Arbeitenden verhungerten. Dieses System bestand in Rußland bis 1917 und besteht noch im Osten; in England blieb es ungeachtet der industriellen Revolution in Kraft während der Napoleonischen Kriege und bis vor hundert Jahren, als die neue Fabrikantenklasse zur Macht kam. In Amerika setzte die Revolution diesem System ein Ziel, nur im Süden erhielt es sich bis zum Bürgerkrieg. Ein System, das so lange galt und erst vor so kurzer Zeit sein Ende fand, hat natürlich einen tiefen Eindruck im Denken und Meinen der Menschen hinterlassen. Vieles an unserer, vermeintlich selbstverständlichen Auffassung vom Wert der Arbeit an sich ist ein Erbe dieses Systems und der modernen Welt nicht gemäß, da es aus der vorindustriellen Zeit stammt. Dank der modernen Technik brauchte heute Freizeit und Muße, in gewissen Grenzen, nicht mehr das Vorrecht kleiner bevorzugter Gesellschaftsklassen zu sein, könnte vielmehr mit Recht gleichmäßig allen Mitgliedern der Gemeinschaft zugute kommen. Die Moral der Arbeit ist eine Sklavenmoral, und in der neuzeitlichen Welt bedarf es keiner Sklaverei mehr. Es ist klar, daß die Bauern in primitiven Gemeinschaften, sich selbst überlassen, sich von dem spärlichen Überschuß, von dem die Soldaten und Priester lebten, nicht getrennt und trotzdem weder weniger produziert noch mehr verbraucht hätten. Anfangs wurden sie mit nackter Gewalt gezwungen, mehr zu produzieren und den Überschuß herzugeben. Allmählich aber fand man die Möglichkeit, viele dazu zu bewegen, sich eine Ethik anzueignen, die ihnen harte Arbeit zur Pflicht machte, obwohl ein Teil dieser Arbeit dazu diente, anderen Leuten ein müßiges Leben zu erhalten. Auf diese Weise war weniger äußerer Zwang erforderlich und der Staat hatte geringere Ausgaben. Heute wären noch 99 Prozent der britischen Lohnempfänger ernstlich entsetzt, wollte man anregen, daß der König kein höheres Einkommen beziehen solle als jeder Arbeiter. Historisch gesehen war der Begriff der Pflicht ein Mittel, das die Machthaber dazu benutzten, andere Menschen dazu zu veranlassen, zum Nutzen ihrer Herren statt zum eigenen Vorteil zu leben. Natürlich täuschen sich die Machthaber über diese Tatsache hinweg, indem sie sich einreden, ihre Interessen seien identisch mit den höheren Interessen der Menschheit. Zuweilen stimmt das sogar; die sklavenhaltenden Athener beispielsweise verwendeten ihre Muße , zum Teil dazu, einen bleibenden Beitrag zur Zivilisation zu leisten, was unter einem gerechten Wirtschaftssystem nicht möglich gewesen wäre. Muße ist wesentlich für die zivilisatorische Entwicklung, und in früherer Zeit wurde die Muße weniger nur möglich durch die Arbeit vieler. Aber ihre Leistungen waren wertvoll, nicht weil Arbeit an sich, sondern weil Muße etwas Gutes ist. Und bei dem Stand der modernen Technik wäre es möglich, allen Menschen Freizeit und Muße gleichmäßig zuzuteilen, ohne Nachteil für die Zivilisation. Dank der modernen Technik läßt sich der Arbeitsaufwand, der zum Erstellen des Lebensbedarfs für jedermann erforderlich ist, ungeheuer herabsetzen. Das zeigte sich besonders klar während des Krieges. Damals fielen alle zum Militär eingezogenen Männer, alle in Rüstungsbetrieben arbeitenden Männer und Frauen und alle mit Spionage, Kriegspropaganda oder in kriegsbedingten Behörden beschäftigten Personen für jede produktive Tätigkeit aus. Dessenungeachtet war der durchschnittliche Gesundheitszustand der ungelernten Arbeiter auf Seiten der Alliierten besser als je zuvor oder seither. Die Bedeutung dieser Tatsache wurde von der Finanzwissenschatt verschleiert: Anleihen geben der Sache den Anschein, als ernähre sich die Gegenwart von der Zukunft. Aber das war natürlich ein Ding der Unmöglichkeit; niemand kann von einem Brot satt werden, das es noch gar nicht gibt. Der Krieg hat zwingend bewiesen, daß sich moderne Völker durch wissenschaftlich organisierte Produktion auf der Basis eines geringen Teils der tatsächlichen Arbeitskapazität der neuzeitlichen Welt angemessen versorgen lassen. Hätte man nach Kriegsende die wissenschaftliche Organisation, die geschaffen worden war, um die Menschen für die Front und die Rüstungsarbeiten freizustellen, beibehalten und die Arbeitszeit auf vier Stunden herabgesetzt, dann wäre alles gut und schön gewesen. Statt dessen wurde das alte Chaos wiederhergestellt; diejenigen, deren Leistungen gefragt waren, mußten viele Stunden arbeiten, und der liest durfte unbeschäftigt bleiben und verhungern. Warum? Weil Arbeit Ehrensache und Pflicht ist und der Mensch nicht gemäß dem Wert dessen, was er produziert hat, bezahlt werden soll, sondern entsprechend seiner tugendhaften Tüchtigkeit, die in rastlosem Fleiß ihren Ausdruck findet. Das ist die Moral eines Sklavenstaates, und sie wurde unter Verhältnissen angewandt, die denen, unter denen sie entstanden ist, in nichts mehr gleichen. Kein Wunder, daß das Ergebnis verheerend war. Wir wollen das an einem Beispiel verdeutlichen. Angenommen, zu einem bestimmten Zeitpunkt sei eine bestimmte Anzahl von Leuten damit beschäftigt, Nadeln herzustellen. Sie fertigen in- sagen wir- achtstündiger täglicher Arbeitszeit den ganzen Weltbedarf an Nadeln an. Nun erfindet jemand ein Verfahren, wonach die gleiche Anzahl von Menschen doppelt soviel Nadeln herstellen kann wie zuvor. Die Welt kann aber nicht doppelt soviel Nadeln gebrauchen. Die Nadeln sind schon so billig, daß sie auch zu noch geringerem Preise kaum mehr gekauft würden. Unter vernünftigen Menschen würde jeder, der sich mit Nadelfabrikation beschäftigt, anfangen, nur noch vier statt acht Stunden zu arbeiten, und alles ginge weiter wie bisher. Aber in der heutigen Welt würde man das für demoralisierend halten. Es wird weiter acht Stunden gearbeitet, es gibt viel zuviel Nadeln, einige Unternehmer machen bankrott, und fünfzig Prozent der früher mit Nadelfabrikation beschäftigten Menschen werden arbeitslos. Zum Schluß ergibt sich daraus genau soviel Freizeit und Muße wie nach dem anderen Plan, nur daß jetzt die Hälfte der Leute völlig untätig ist, während die andere Hälfte überbeschäftigt bleibt. Auf diese Weise ist dafür gesorgt, daß die unumgängliche Muße nichts als Elend bewirkt, statt zur Quelle von Glück und Freude für alle zu werden. Kann man sich etwas Wahnsinnigeres vorstellen? Der Gedanke, daß die Unbemittelten eigentlich auch Freizeit und Muße haben sollten, hat die Reichen stets empört. Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war ein fünfzehn-stündiger Arbeitstag für den Mann das Normale; Kinderarbeiteten zuweilen ebensolange und sehr häufig zwölf Stunden täglich. Als vorwitzige Wichtigtuer darauf hinwiesen, daß das doch eigentlich eine recht lange Arbeitszeit sei, wurde ihnen erklärt, die Arbeit hindere die Erwachsenen daran, sich zu betrinken, und die Kinder, Unfug zu treiben. In meiner frühen Jugend wurden, kurz nachdem die Arbeiter in den Städten das Wahlrecht erlangt hatten, gewisse arbeitsfreie Tage allgemein gesetzlich festgelegt, zur großen Entrüstung der oberen Gesellschaftsschichten. Ich höre noch eine alte Herzogin sagen: "Was wollen denn die Habenichtse mit Freizeit anfangen? Arbeiten sollen sie!" So offen äußern sich die Leute heute nicht mehr, aber die Gesinnung ist noch die gleiche geblieben und hat weitgehend unsere chaotische Wirtschaftslage verschuldet. Wir wollen einen Augenblick die Ethik der Arbeit offen und ohne Aberglauben betrachten. Jeder Mensch verbraucht im Laute seines Lebens zwangsläufig einen bestimmten Anteil des Arbeitsprodukts aller Menschen. Wenn Arbeit, wie man wohl als gegeben voraussetzen darf, im großen und ganzen etwas Unangenehmes ist, muß man es als ungerecht bezeichnen, daß ein Mensch mehr verbrauchen darf, als er produziert. Selbstverständlich kann diese Arbeit, wie beispielsweise beim Arzt, in Dienstleistungen statt im Produzieren von Waren bestehen; doch sollte jeder Mensch etwas zum Ausgleich für Kost und Wohnung leisten. Insoweit muß man die Verpflichtung zu arbeiten anerkennen, aber auch nur insoweit. Ich möchte nicht dabei verweilen, daß sich in allen modernen Gesellschaften außer der UdSSR viele Leute selbst diesem Mindestmaß an Arbeit noch entziehen, nämlich all jene, die Geld erben, und jene, die Geld erheiraten. Ich halte aber die Tatsache, daß es diesen Leuten möglich ist, nichts zu tun, für nicht annähernd so nachteilig wie die Tatsache, daß man von den Lohnempfängern erwartet, sich zu überarbeiten oder zu verhungern. Wenn der normale Lohnempfänger vier Stunden täglich arbeitete, hätte jedermann genug zum Leben und es gäbe keine Arbeitslosigkeit - unter der Voraussetzung einer gewissen, sehr maßvollen und vernünftigen Organisation. Dieser Gedanke stößt bei den Wohlhabenden auf entrüstete Ablehnung, weil sie davon überzeugt sind, die Armen wüßten nichts Rechtes mit soviel Freizeit anzufangen. In Amerika arbeiten selbst Leute, die schon vermögend sind, viele Stunden lang; solche Leute sind natürlich ungehalten, wenn von Muße für Arbeiter die Rede ist, es sei denn in Form der harten Strafe der Arbeitslosigkeit; tatsächlich mißbilligen sie sogar die Freizeit ihrer eigenen Söhne. Aber während sie ihre Söhne so schwer arbeiten sehen möchten, daß ihnen keine Zeit für ihre kulturelle Entwicklung bleibt, sind sie seltsamerweise durchaus damit einverstanden, daß ihre Frauen und Töchter überhaupt nichts zu tun haben. Die versnobte Bewunderung für alles Nutzlose, die sich in einer aristokratischen Gesellschaft auf beicie Geschlechter verteilt, ist in der Plutokratie auf die Frauen beschränkt; aber auch so läßt sich diese Einstellung noch nicht leichter mit gesundem Menschenverstand vereinbaren. Man muß wohl zugeben, daß kluges Nützen von Freizeit und Muße das Ergebnis von Zivilisation und Erziehung ist. Wer zeit seines Lebens täglich lange gearbeitet hat, wird sich langweilen, wenn er plötzlich untätig sein muß. Aber ohne beträchtlich viel Muße bleiben dem Menschen viele schönste Dinge vorenthalten. Es liegt jedoch kein Grund mehr vor, die Masse des Volkes weiterhin diese Entbehrung erleiden zu lassen; nur törichte, meist verdrängte Askese veranlaßt uns, weiterhin auf einem Übermaß an Arbeit zu bestehen, nach dem es heute gar nicht mehr nötig ist. In dem neuen Glauben, der die russische Staatsführung beherrscht, unterscheidet sich zwar vieles stark von der traditionellen Lehre des Westens, und doch ist manches völlig unverändert. Die Einstellung der herrschenden Klassen und speziell derer, die in der pädagogischen Propaganda führend sind, gleicht, was den Adel der Arbeit betrifft, haargenau allem, was die herrschenden Klassen der Welt stets den sogenannten "armen aber ehrlichen Leuten" gepredigt haben. Fleiß, Mäßigkeit, Bereitschaft, viele Stunden für Ungewissen, in der Ferne liegenden Nutzen zu arbeiten, selbst gehorsame Unterordnung unter die Obrigkeit, das alles erscheint hier wieder; überdies verkörpert die Obrigkeit noch den Willen des Höchsten, des Herrn der Welt, der jedoch jetzt den neuen Namen "Dialektischer Materialismus" trägt. Der Sieg des Proletariats in Rußland hatte einiges gemeinsam mit dem Sieg der Frauenrechtlerinnen in manchen anderen Ländern. Lange Zeit hatten die Männer der Frau die überlegene Veranlagung zur Heiligen zugestanden und die Frauen über ihre sonstige untergeordnete Stellung mit der Behauptung hinweggetröstet, Heiligkeit sei erstrebenswerter als Macht. Schließlich beschlossen aber die Frauenrechtlerinnen, daß sie gerne beides hätten, weil ihre Pioniere zwar alles glaubten, was ihnen die Männer vom Wert der Tugend erzählt, nicht aber, was die ihnen vom Unwert der politischen Macht vorgeredet hatten. Etwas Ähnliches trug sich in Rußland mit Bezug auf die Werktätigkeit zu. Jahrhundertelang haben die Begüterten und ihre Schmarotzer das Lob der "ehrlichen, harten Arbeit" gesungen, haben das einfache Leben gepriesen, haben sich zu der Religion bekannt, die da lehrt, daß der Arme weit mehr Aussicht hat, in den Himmel zu kommen als der Reiche, und im allgemeinen versucht, den Handarbeitern einzureden, daß der Verlagerung der Materie im Raum ein besonderer Adel innewohne, genau so wie die Männer sich bemühten, die Frauen glauben zu machen, ihre sexuelle Versklavung adele sie ganz besonders. In Rußland nahm man die ganze Lehre vom Vorrang der Handarbeit ernst, und tatsächlich steht dort der Handarbeiter in höherem Ansehen als alle anderen. Womit im wesentlichen nur ein alter Appell wieder aufgegriffen wird, jedoch nicht zu dem einstigen Zweck: man appelliert an die Menschen, damit sie bereitwillig Akkordarbeit auf Spezialgebieten leisten. Werktätigkeit wird vor den jungen Menschen als Ideal hingestellt und ist der gesamten ethischen Lehre zugrunde gelegt. m Augenblick wirkt sich das alles möglicherweise noch gut ans. Ein riesiges Land voller Naturschätze wartet darauf, sich entfalten zu können, und soll sich entwickeln, ohne viel Kredit aufzunehmen. Unter diesen Umständen muß hart gearbeitet werden, was Aussicht auf großen Ertrag hat. Was aber wird geschehen, wenn der Punkt erreicht ist, wo jedermann bequem leben könnte, ohne den ganzen Tag lang arbeiten zu müssen? Wir im Westen haben verschiedene Möglichkeiten, mit diesem Problem fertigzuwerden. Wir sind nicht versucht, wirtschaftliche Gerechtigkeit einzuführen, so daß ein großer Teil des Gesamtprodukts einer kleinen Minderheit der Bevölkerung zugute kommt, von der viele überhaupt nicht arbeiten. Da es keinerlei zentrale Produktionskontrolle gibt, produzieren wir haufenweise Dinge, die gar nicht gebraucht werden. Wir halten einen hohen Prozentsatz der arbeitsfähigen Bevölkerung unbeschäftigt, denn wir können auf ihre Arbeit verzichten, indem wir die anderen Überstunden machen lassen. Wenn all diese Methoden sich als unzulänglich erweisen, haben wir immer noch den Krieg: wir veranlassen eine Reihe von Leuten, Sprengstoffe herzustellen, und eine Reihe anderer, sie zur Explosion zu bringen, wie Kinder, die gerade das Feuerwerk erfunden haben. Mit Hilfe all dieser Kunstgriffe gemeinsam gelingt es uns, wenn auch mit Schwierigkeiten, die Vorstellung aufrecht zu erhalten, der Durchschnittsmensch sei dazu bestimmt, viel und schwer mit der Hand zu arbeiten. Auf Grund größerer wirtschaftlicher Gerechtigkeit und zentraler Produktionslenkung wird das Problem in Rußland anders gelöst werden müssen. Die vernünftige Lösung wäre, die Arbeitsstunden allmählich herabzusetzen, sobald genug für den Bedarf und den elementaren Komfort aller produziert wird; dabei sollte das Volk auf jeder Entwicklungsstufe bestimmen, ob ihm mehr Freizeit oder mehr Verbrauchsgüter erwünscht wären. Da aber stets von oben her die Schwerarbeit als höchste Tugend hingestellt wurde, ist kaum vorstellbar, wie es die Behörden anstellen sollten, plötzlich ein Paradies anzustreben, in dem es viel Muße und wenig Arbeit geben würde. Es liegt näher, daß sie beständig neue Pläne erfinden werden, wonach die mögliche gegenwärtige Freizeit einer künftigen Produktivität zum Opfer gebracht werden muß. Ich las kürzlich von dem geistreichen Plan russischer Ingenieure, das Weiße Meer und die nordsibirischen Küsten durch einen Dammbau quer durch das Karibische Meer zu erwärmen. Ein bewunderungswürdiges Projekt, nur würde mit seiner Durchführung wahrscheinlich dem Proletariat noch auf eine weitere Generation hinaus ein angenehmes Leben versagt bleiben, während der Adel der Schwerarbeit inmitten der Eiswüsten und Schneestürme der Arktis Triumphe feiern könnte. Wenn es dazu käme, wäre es das Ergebnis der Auffassung, die in der Tugend der Werktätigkeit einen Selbstzweck sieht und nicht ein Mittel, um einen Zustand zu erreichen, wo Schwerarbeit nicht mehr nötig ist. Tatsache ist, daß das Bewegen von Materie zwar bis zu einem gewissen Grade zur Erhaltung unserer Existenz notwendig, aber ganz gewiß keines der Zwecke und Ziele ist, zu denen die Menschen bestimmt sind. Andernfalls müßten wir ja jeden Erdarbeiter über Shakespeare stellen. Zweierlei hat uns auf diesen Irrweg geführt. Einmal durften die Armen nicht unzufrieden werden, was die Reichen veranlaßte, jahrtausendelang Wert und Würde der Arbeit zu predigen, indes sie selbst darum bemüht waren, in dieser Beziehung auf jede Würde zu verzichten. Zum ändern ist es die neue Freude an der Technik und unser Schwelgen in erstaunlichen Möglichkeiten, das Antlitz der Erde kunstvoll zu verändern. Keines dieser Motive spricht aber den richtigen Arbeiter groß an. Fragt man ihn, was er für die Krone seines Landes hält, wird er wohl schwerlich antworten: "Ich liebe die Arbeit der Faust, weil sie mir das Gefühl gibt, die edelste Aufgabe des Menschen zu erfüllen, und weil mich der Gedanke freut, wie stark der Mensch seinen Planeten umzuwandeln vermag. Zwar verlangt mein Körper periodisch nach Ruhezeit, die ich nach bestem Wissen ausnützen muß, aber am glücklichsten bin ich doch, wenn der Morgen kommt und ich wieder an meine schwere Arbeit gehen kann, die meine ganze Befriedigung ist." Ich habe nie gehört, daß Arbeiter so etwas sagen. Sie halten die Arbeit, wofür man sie halten soll, nämlich für ein unumgängliches Mittel, sich den Lebensunterhalt zu sichern, und alles, was es an Freude für sie gibt, beziehen sie aus ihrer Freizeit. Man wird behaupten, daß wohl ein wenig Muße angenehm sei, daß die Leute aber nicht wüßten, womit ihre Tage ausfüllen, wenn sie nur vier von vierundzwanzig Stunden arbeiten würden. Soweit das in der modernen Welt zutrifft, ist damit unserer Zivilisation das Urteil gesprochen; für jedwede frühere Epoche hätte es nicht gegolten. Früher waren die Menschen noch nicht fähig, sorglos und verspielt zu sein, was bis zu einem gewissen Grade durch den Kult mit der Tüchtigkeit verschüttet wurde. Der moderne Mensch glaubt, alles, was geleistet wird, müsse zugunsten von etwas anderem getan werden, aber niemals um seinetwillen. Manche Leute verurteilen beispielsweise besorgt und ständig die Gewohnheit, ins Kino zu gehen, und erklären uns, daß die Jugendlichen dadurch zu Verbrechern würden. Aber die für die Produktion eines Films aufgewandte viele Arbeit ist doch aller Ehren wert, weil es ja Arbeit ist und finanziellen Profit bringt. Die Vorstellung, nur jede gewinnbringende Tätigkeit sei wünschens- und erstrebenswert, hat alles auf den Kopf gestellt. Der Schlächter, der uns mit Fleisch versorgt, und der Bäcker, der uns das Brot liefert, sind zu loben, weil sie Geld verdienen; wer aber mit Genuß verspeist, was sie uns liefern, ist nichts weiter als leichtsinnig, es sei denn, er äße, um sich für seine Arbeit zu stärken. Kurzum, man vertritt die Auflassung, Geld einzunehmen sei gut und Geld auszugeben schlecht. Darin nur die beiden Seiten einer Transaktion sehen zu wollen, ist natürlich absurd; und doch könnte man wahrhaftig mit gleichem Recht behaupten, Schlüssel seien gut, aber Schlüssellöcher schlecht. Was immer der Warenproduktion an Wert innewohnen mag, muß ausschließlich von dem Nutzen abgeleitet werden, der sich aus ihrem Verbrauchergeben kann. In unserer Gesellschaftsordnung arbeitet der einzelne für Profit; der soziale Zweck seiner Arbeit liegt aber im Verbrauch dessen, was er produziert. Diese Trennung von individuellem und sozialem Zweck der Produktion erschwert es den Menschen so sehr, in einer Welt, wo Profitgier der Ansporn zu Fleiß und Betriebsamkeit ist, klar zu denken. Wir halten zuviel von der Produktion und zuwenig vom Verbrauch. Daraus ergibt sich unter anderem, daß wir dem Vergnügen und den einfachen Freuden zu wenig Bedeutung beimessen und daß wir die Produktion nicht danach beurteilen, welchen Genuß sie dem Verbraucher bereitet. Meinen Vorschlag, die tägliche Arbeitszeit auf vier Stunden herabzusetzen, möchte ich aber nicht dahin verstanden wissen, daß die übrige Zeit unbedingt leichtsinnig vertan werden sollte. Ich meine, mit vierstündiger täglicher Arbeitszeit sollte sich der Mensch das Anrecht auf seinen Unterhalt und den elementaren Lebenskomfort erwerben können, während er den Rest seiner Zeit verwenden sollte, wie es ihm paßt. Wesentlichen Anteil an jedem derartigen Gesellschaftssystem würde eine fortgeschrittenere Erziehung und Bildung als die heute übliche haben; sie sollte unter anderem anstreben, Neigungen und Interessen zu wecken, die dem Menschen eine gescheite Verwendung seiner Mußezeit ermöglichen. Ich denke dabei nicht in erster Linie an Dinge, die man als "anspruchsvoll" bezeichnen könnte. Bauerntänze kennt man heute nur noch in entlegenen ländlichen Gebieten, aber die Impulse, die zur Entstehung und Pflege dieser Tänze führten, können in der menschlichen Natur noch nicht erstorben sein. Die Unterhaltung der Stadtbewohner ist überwiegend passiv geworden: man sieht sich Filme an, geht zu Fußballspielen, hört Radio und so fort. Das ergibt sich aus der Tatsache, daß ihre aktiven Kräfte völlig von der Arbeit absorbiert werden; bei mehr Muße würden sie auch wieder an Unterhaltungen Vergnügen finden, bei denen sie aktiv mitwirken. In der Vergangenheit gab es eine kleine Klasse von Müßigen und eine größere arbeitende Klasse. Die Klasse der Müßigen genoß Vorteile, die auf sozialer Ungerechtigkeit beruhten; dadurch wurde sie zwangsläufig tyrannisch und gefühlsarm und mußte Theorien zur Rechtfertigung ihrer Vorrechte erfinden. Das alles schmälerte stark ihre Verdienste, aber trotz dieser Schattenseiten hat sie fast alles geschaffen, was wir Zivilisation nennen. Sie förderte die Künste und entdeckte die Wissenschaften; sie schrieb Bücher, entwickelte Philosophien und vervollkommnete die gesellschaftlichen Beziehungen. Selbst die Befreiung der Unterdrückten wurde gewöhnlich von oben her eingeleitet. Ohne die Klasse der Müßiggänger wären die Menschen heute noch Barbaren. Es war jedoch eine außerordentlich verschwenderische Methode, daß sich in einer Klasse das Nichtstun, bar aller Pflichten, vererbte. Kein Mitglied dieser Klasse hatte je gelernt, fleißig zu sein, und im Ganzen gesehen war sie nicht ungewöhnlich intelligent. Jene Gesellschaftsklasse mochte wohl einmal einen Darwin hervorbringen, aber diesem einen standen ja Zehntausende von Landedelleuten gegenüber, die nie etwas Gescheiteres im Kopf hatten als Fuchsjagden und Strafen für Wilddiebe. Gegenwärtig, nimmt man an, versorgen uns die Universitäten, auf systematischere Weise, mit allem, was die müßige Gesellschaftsklasse früher zufällig und nebenbei bewirkte. Das ist ein großer Fortschritt, hat aber auch gewisse Nachteile. Das Universitätsleben unterscheidet sich so sehr vom allgemeinen Leben draußen in der Welt, daß die Menschen, die in einem akademischen Milieu leben, meist keine Ahnung haben von den eigentlichen Vorurteilen und Problemen der normalen Männer und Frauen; außerdem haben sie gewöhnlich eine Ausdrucksweise, die ihre Ansichten jedes Einflusses auf das durchschnittliche Publikum beraubt. Ein anderer Nachteil ist, daß man an den Universitäten nur organisierte und vorgeschriebene Studienarbeit kennt, so daß jemand, der auf eigenen Wegen forschend vorgehen möchte, wahrscheinlich entmutigt werden wird. Akademische Einrichtungen können daher, so nützlich sie auch sind, nicht als angemessene Wahrer der zivilisatorischen Interessen gelten in dieser Welt, wo alle Menschen jenseits ihrer Mauern nur allzu eifrig dem reinen Nützlichkeitsprinzip huldigen. Wenn auf Erden niemand mehr gezwungen wäre, mehr als vier Stunden täglich zu arbeiten, würde jeder Wißbegierige seinen wissenschaftlichen Neigungen nachgehen können, und .jeder Maler könnte malen, ohne dabei zu verhungern, und wenn seine Bilder noch so gut wären. Junge Schriftsteller brauchten nicht durch sensationelle Reißer auf sich aufmerksam zu machen, um wirtschaftlich so unabhängig zu werden, daß sie die monumentalen Werke schaffen können, für die sie heute, wenn sie endlich so weit gekommen sind, gar keinen Sinn und keine Kraft mehr haben. Menschen, die sich als Fachleute für eine besondere wirtschafts- oder staatspolitische Phase interessieren, werden ihre Ideen entwickeln können, ohne dabei im luftleeren akademischen Raum zu schweben, was der Arbeit der Volkswirtschaftler an den Universitäten so häufig einen wirklichkeitsfremden Anstrich gibt. Die Ärzte werden Zeit haben, sich mit den Fortschritten auf medizinischem Gebiet vertraut zu machen, die Lehrer werden sich nicht mehr erbittert bemühen müssen, mit routinemäßigen Methoden Dinge zu lehren, die sie in ihrer Jugend gelernt und die sich in der Zwischenzeit vielleicht als falsch erwiesen haben. Vor allem aber wird es wieder Glück und Lebensfreude geben, statt der nervösen Gereiztheit, Übermüdung und schlechten Verdauung. Man wird genug arbeiten, um die Muße genießen zu können, und doch nicht bis zur Erschöpfung arbeiten müssen. Wenn die Menschen nicht mehr müde in ihre Freizeit hineingehen, dann wird es sie auch bald nicht mehr nach passiver und geistloser Unterhaltung verlangen. Mindestens ein Prozent wird sich wahrscheinlich in der Zeit, die nicht mit berufstätiger Arbeit ausgefüllt ist, Aufgaben von allgemeinem Interesse widmen, und da ihr Lebensunterhalt nicht von dieser Beschäftigung abhängt, werden sie dabei ungehindert eigene Wege beschreiten können und nicht gezwungen sein, sich nach den Maßstäben zu richten, die ältere Pseudowissenschaftler aufgestellt haben. Aber die Vorteile der Muße werden nicht nur an diesen Ausnahmefallen zu erkennen sein. Die normalen Männer und Frauen werden, da sie die Möglichkeit haben, ein glückliches Leben zu führen, gütiger und toleranter und anderen gegenüber Weniger mißtrauisch sein. Die Lust am Kriegführen wird aussterben, teils aus diesem Grunde und teils, weil Krieg für alle lang dauernde, harte Arbeit bedeuten würde. Guten Mutes zu sein, ist die sittliche Eigenschaft, deren die Welt vor allem und am meisten bedarf, und Gutmütigkeit ist das Ergebnis von Wohlbehagen und Sicherheit, nicht von anstrengendem Lebenskampf. Mit den modernen Produktionsmethoden ist die Möglichkeit gegeben, daß alle Menschen behaglich und sicher leben können; wir haben es statt dessen vorgezogen, daß sich manche überanstrengen und die andern verhungern. Bisher sind wir noch immer so energiegeladen arbeitsam wie zur Zeit, da es noch keine Maschinen gab; das war sehr töricht von uns, aber sollten wir nicht auch irgendwann einmal gescheit werden?

Russell, Bertrand (1872 - 1970)